Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 217

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-2/seite/217

sahen alle, wie der Liberalismus durch einen einzigen Fußtritt, durch einen einzigen Peitschenhieb des Absolutismus augenblicklich von der Höhe seiner scheinbaren Macht in den Abgrund einer hoffnungslosen Ohnmacht stürzte. Auf den Schlag der Kosakenknute fand der Liberalismus keine Antwort mehr, er schrumpfte zusammen, schwieg und zeigte damit vor aller Augen seine ganze Nichtigkeit. Und in der Befreiungsbewegung Rußlands trat damals eine fühlbare. Stockung auf einige Wochen ein, bis der 9. Januar das Petersburger Proletariat auf die Straße brachte und zeigte, wer in dieser Revolution berufen ist, der wirkliche Vortrupp und „Erzieher“ zu sein. An Stelle des Leichnams des bürgerlichen Liberalismus trat eine lebendige Kraft auf. (Beifall.)

Zum zweiten Male erhob der russische Liberalismus das Haupt, als der Druck der Volksmassen den Absolutismus zwang, die I. Duma einzuberufen. Die Liberalen fühlten sich wieder bei Kräften und glaubten wieder, daß gerade sie die Führer der Befreiungsbewegung seien, daß man mit Advokatenreden etwas erreichen kann und daß sie eine Macht seien. Aber es folgte die Auseinanderjagung der Duma[1], und der Liberalismus fiel zum zweiten Male Hals über Kopf in den Abgrund der Ohnmacht und Nichtigkeit. Alles, was er aus eigener Kraft auf den Angriff der Reaktion zu antworten vermochte, war der berüchtigte Wiborger Aufruf[2], dieses klassische Dokument des „passiven Widerstandes“, jenes passiven Widerstandes, über den Marx 1848 in der „Neuen Rheinischen Zeitung“ schrieb, daß er dem Widerstand des Kalbes gegen den Schlächter gleiche, der es schlachten will. (Beifall.)

Diesmal verlor der Liberalismus die Illusion von seiner Kraft und seiner führenden Rolle in der gegenwärtigen Revolution. Er verlor gerade in der I. Duma die Illusion, man könne die Mauern der absolutistischen Festung durch Advokaten- und parlamentarische Redegewandtheit wie mit den Posaunen von Jericho zerstören. Er verlor in der Zeit der Auseinanderjagung der Duma die Illusion, das Proletariat sei berufen, die Rolle des Schreckgespenstes gegen den Absolutismus zu spielen, das die Liberalen hinter den Kulissen halten, solange sie es nicht brauchen, und das sie mit einem Wink auf die Szene rufen, wenn sie den Absolutismus erschrecken und ihre eigene Position stärken wollen. Der Liberalismus mußte sich davon überzeugen, daß das russische Proletariat keine Marionette in seinen Händen ist, daß es nicht bereit ist, der Bourgeoisie ständig als Kanonenfutter zu dienen, sondern daß es eine Kraft ist, die in dieser

Nächste Seite »



[1] Die I. Reichsduma begann ihre Tätigkeit am 27. April 1906. Getrieben von der revolutionären Bewegung mußte die Duma Projekte zur Lösung der Agrarfrage vorlegen. Die zaristische Regierung löste daraufhin die Duma wegen „Überschreitung ihrer konstitutionellen Befugnisse“ am 8. Juli 1906 auf.

[2] Aus Protest gegen die Auflösung der I. Reichsduma versammelten sich die Vertreter der Konstitutionell-Demokratischen Partei (Kadetten) mit anderen Deputierten der Duma am 22. Juli 1906 in Wiborg. In einem Aufruf an das Volk forderten sie zum passiven Widerstand auf, vor allem zur Verweigerung der Steuerzahlungen und des Heeresdienstes.