Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 216

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die jetzige Wirklichkeit anzuwenden, stellt ein krasses Beispiel metaphysischen Denkens dar, eine Verwandlung der lebendigen, historischen Anschauung der Schöpfer des Manifests in ein erstarrtes Dogma. Es genügt, einen Blick auf das Wesen und das Verhältnis der politischen Parteien zu werfen, besonders auf den Zustand des Liberalismus in Deutschland, Frankreich, Italien, England, ja, in ganz Westeuropa, um zu begreifen, daß die Bourgeoisie schon längst aufgehört hat, die politisch-revolutionäre Rolle zu spielen, die sie einst spielte. Ihr gegenwärtiges allgemeines Abschwenken zur Reaktion, zur Politik des Schutzzollsystems, ihre Huldigung gegenüber dem Militarismus, ihr gemeinsames Paktieren mit den konservativen Agrariern – alles das beweist, daß die 58 Jahre, die seit dem Erscheinen des Kommunistischen Manifests verflossen sind, eben nicht spurlos vergangen sind. Und beweist denn nicht auch die eigene kurze Geschichte des russischen Liberalismus, wie wenig man das aus den Worten des Manifests abgeleitete Schema auf ihn anwenden kann? Denken wir zurück, was stellte der russische Liberalismus noch vor fünf Jahren dar? Damals konnte man noch im Zweifel darüber sein, ob in Rußland dieser „Erzieher des Proletariats“, den wir nicht „stören“ sollen, die „Macht zu erlangen“, überhaupt existiert. Bis zum Jahre 1900 ertrug der Liberalismus geduldig jeglichen Druck des Absolutismus, jegliche Äußerung von Despotie. Und erst, als das in langjähriger Arbeit von der Sozialdemokratie geschulte, durch den japanischen Krieg[1] aufgerüttelte russische Proletariat in grandiosen Streiks im Süden Rußlands, in Massendemonstrationen die öffentliche Arena betrat, entschloß sich auch der russische Liberalismus, den ersten zaghaften Schritt zu tun. Es begann die berüchtigte Epopöe der Semstwokongresse, der Professorenpetitionen und der Advokatenbankette.[2] Der Liberalismus, berauscht von der eigenen Redegewandtheit und der Freiheit, die ihm unerwartet gewährt wurde, war bereit, an seine Kraft zu glauben. Aber womit endete diese Epopöe? Alle erinnern wir uns des berühmten Moments, als im November/Dezember 1904 der „liberale Frühling“ plötzlich ergraute und der sich erholende Absolutismus den Liberalismus mit einem Schlage, ohne jede Zeremonie, mundtot machte, indem er ihm ganz einfach zu schweigen befahl.[3] Wir

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[1] Von Januar 1904 bis September 1905 hatte Japan einen imperialistischen Krieg gegen Rußland um die Vorherrschaft im Fernen Osten geführt. Die schwere Niederlage der russischen Truppen im Jahre 1905 schwächte den Zarismus und verschärfte die revolutionäre Krise in Rußland.

[2] Die liberale Bourgeoisie forderte auf Banketten, Semstwokongressen und in Petitionen Reformen und bürgerliche Konstitution.

[3] Die zaristische Regierung erließ im Dezember 1904 eine Verordnung, in der die Erweiterung der Rechte der Semstwos versprochen, aber die Unantastbarkeit der Selbstherrschaft und der Grundgesetze betont wurde. Gleichzeitig kündigte die Regierung in einer Verordnung an, alle Bestrebungen nach Reformen und nach einer Verfassung zu unterdrücken und deren Befürworter gerichtlich zu belangen.