Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 179

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sionen, die das Proletariat von 1848 erfüllten, es kämpft um die Freiheiten, um sie als Kampfmittel gegen die Bourgeoisie in die Hände zu bekommen. Wer einen Einblick in russische Verhältnisse hat, der muß den Eindruck gewinnen, daß der russische Liberalismus schon zu einem Zwerg zusammengeschrumpft ist und wie das Proletariat immer lawinenartiger, immer riesiger anschwillt, der muß sich aber auf Grund dieser Erscheinung sagen, daß der Rechtsstaat Rußland etwas ganz anderes sein wird als das heutige Deutschland. Aus der russischen Revolution kann nimmermehr die Spottgeburt des Liberalismus hervorgehen wie jetzt in Deutschland. Es ist eine unrichtige Auffassung, wenn man die russische Revolution nur vom Standpunkt der sogenannten Rechtsordnung betrachtet und sehnlichst darauf wartet, daß ein Parlament zu Recht besteht. Sie kennen ja die Geschichte der I. Duma. Der Liberalismus fühlte sich schon durch den Zusammentritt derselben befreit von dem furchtbaren Traum der Revolution, als die Vernichtung der Duma erfolgte.[1] Die Auflösung der Duma war kein Zeichen der Macht des Absolutismus, sondern der Ohnmacht des russischen Liberalismus. Die Auflösung der Duma hat gezeigt, daß das russische Bürgertum tief gefallen ist. Bei jedem weiteren Versuch wird sich’s zeigen, daß ihm die Kraft zu dem Kampfe gegen den Absolutismus fehlt. Als die Botschaft kam, daß die Duma zu Muttern gehen sollte, wußte diese nichts Besseres zu tun, als nach Finnland zu fliehen und dort einen papiernen Protest für den Papierkorb der Weltgeschichte zu fabrizieren.[2] Das russische Proletariat hat sich trotz der tiefen Stufe, auf der es sich befindet, viel reifer gezeigt als das russische Bürgertum. Es hat von vornherein begriffen, daß der Parlamentarismus ohnmächtig ist, solange der Absolutismus am Ruder ist, solange dieser nicht durch die Bestrebungen der revolutionären Klasse erdrückt wird. Wir stehen heute vor der Frage der Machtergreifung durch das revolutionäre Proletariat. Der Liberalismus hat bereits ausgespielt, das hat die Duma gezeigt. Die Aufgabe des Proletariats ist keine leichte, es ist ein Kampf auf Tod und Leben zwischen dem russischen aufstrebenden Volke und dem russischen Absolutismus. In diesem Kampfe soll sich das Schicksal der künftigen russischen Freiheit entscheiden. Es gibt wohl auch eine Reihe zaghafter Genossen, die sagen, daß durch die jetzigen Brutalitäten der Gewalthaber die Revolution in einem Blutmeer erstickt werden könne.

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[1] Die I. Reichsduma begann ihre Tätigkeit am 27. April 1906. Getrieben von der revolutionären Bewegung mußte die Duma Projekte zur Lösung der Agrarfrage vorlegen. Die zaristische Regierung löste daraufhin die Duma wegen „Überschreitung ihrer konstitutionellen Befugnisse“ am 8. Juli 1906 auf.

[2] Aus Protest gegen die Auflösung der I. Reichsduma versammelten sich die Vertreter der Konstitutionell-Demokratischen Partei (Kadetten) mit anderen Deputierten der Duma am 22. Juli 1906 in Wiborg. In einem Aufruf an das Volk forderten sie zum passiven Widerstand auf, vor allem zur Verweigerung der Steuerzahlungen und des Heeresdienstes.