Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 180

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Wer drüben gewesen ist, weiß, daß das nicht wahr sein kann. Es ist nichts irriger, als anzunehmen, daß die russische Freiheit gewaltsam zurückgehalten werden könne. Auch hier bewährt sich die Lehre von Marx und Engels, daß jede Gesellschaftsordnung eine historische Notwendigkeit ist, daß sie zur Welt kommen muß, genau wie die Frucht aus dem Mutterleibe, auch wenn es noch so große Anstrengungen kostet. Der Kampf, der uns noch bevorsteht, ist die schwierigste Phase der ganzen Revolution. Sie müssen sich den Massenstreik als eine bloße Wiederholung nach allen Richtungen vorstellen; es war eine fortlaufende Reihe von Entwicklungen in der revolutionären Bewegung, die aber das Proletariat immer höher und höher gebracht hat. Es ist die regelrechte Entwicklung zur inneren Reife und Erkenntnis, die uns bis zum jetzigen Punkte der Revolution gebracht hat. Diese Erkenntnis besteht darin, daß es nicht bloß genügt, Massenstreiks durchzuführen, um den Absolutismus zu stürzen, sondern daß man früher oder später auch die Frage eines Volksaufstandes gegen den Träger des absolutistischen Regimes wird erwägen müssen, um die Revolution zu Ende zu führen. Der ganze Verlauf der Revolution beweist gerade, wie sie sich von allen anderen früheren Revolutionen unterscheidet – es waren kurze Straßenschlachten von wenig Stunden oder Tagen. Heutzutage, wo die Geschicke in der Hand des Volkes liegen, da ist eine Revolution ein langer, schwerer Prozeß; erst durch eine lange Reihe von Massenstreiks hat sich das gewaltige Heer zusammenfinden können zum letzten entscheidenden Schlag. Wer den Verlauf der Revolution in seiner inneren Lage erfaßt, der wird sich durchaus keinem Pessimismus hingeben. Man bewundert das Heldentum des russischen Proletariats. Ich will diese Auffassung nicht nur nicht bestreiten, sondern ich möchte darauf verweisen, daß man den Tribut der Bewunderung des Heldentums zuviel den im Vordergrund des Kampfes stehenden Persönlichkeiten darbringt und viel zuwenig der großen Masse, die ungeheure Opfer bringt. Ich möchte Sie darauf verweisen, daß es viel wichtiger ist, aus den russischen Vorgängen sich klarzumachen, daß die Entfaltung einer revolutionären Macht nicht allein abhängig ist von der Zahl der organisierten Sozialdemokraten. Erst die Stunde des Kampfes zeigt, welch ungeheurer Idealismus im Volke steckt. Die russischen Vorgänge zeigen, daß wir uns nach der allgemeinen Situation auch in Deutschland bereit machen sollen auf solche Kämpfe, in denen die Massen den Ausschlag geben. Der politische Massenstreik bildet den Mittelpunkt der Verhandlungen des Parteitages; ein Beweis, daß das Klassenbewußtsein im Proletariat immer tiefere Wurzeln faßt. Es fühlt aus sich heraus, daß das Proletariat sich

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