Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 178

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-2/seite/178

unter dem Joch des Absolutismus; hat aber jemand danach gefragt, wie viele Tausende am Skorbut, an Hunger zugrunde gegangen sind? Hat jemand danach gefragt, daß Tausende Proletarier auf dem Schlachtfelde der Arbeit gefallen sind, ohne daß sich auch nur der Statistiker darum kümmerte? Wie viele Kinder auf den russischen Dörfern verkommen oder nicht das erste Lebensjahr erreicht haben aus Mangel an Nahrung? Sie werden begreifen, daß gegen diese unzähligen Opfer die jetzigen Opfer und Leiden ganz minimal sind. Aber nun die andere Seite der Medaille. Während früher das russische Volk ohne jede Aussicht dahinlebte, aus seinen furchtbaren Leiden herauszukommen, weiß es jetzt, wofür es fällt, wofür es leidet, wofür es kämpft. Jeder weiß, daß er wenigstens für seine Kinder, seine Enkel an der Befreiung des Volkes mitarbeitet. Das russische Volk hat sich nur furchtbar verspätet, es ist um ein halbes Jahrhundert in der Entwicklung hinter den anderen Nationen Europas zurückgeblieben und kämpft nun als letzter Nachzügler für seine Befreiung durch die Revolution. Die Geschichte weiß, was sie tut, und wenn sie uns auch hat warten lassen, wir bekommen dafür ein ganz anderes Geschenk als die anderen, uns vorausgeeilten Nationen. Bei uns ist die Revolution eine ganz andere Erscheinung, als es die Märzrevolution in Deutschland und die Große Französische Revolution waren. Wohl kämpft man in Rußland um dieselben bürgerlichen Freiheiten, ein Parlament, das Vereinsrecht, die Preßfreiheit usw., für die man in Deutschland schon im Jahre 1848 gekämpft und in Frankreich schon ein halbes Jahrhundert früher, aber heute steht bei uns nicht das aufstrebende Bürgertum an der Spitze dieser Bewegung, sondern es ist das Proletariat, welches die führende Rolle im Kampfe übernommen hat. Das russische Proletariat gibt sich nicht den Illusionen des Proletariats von 1848 hin, es weiß ganz gut, daß die Einführung der Herrschaft des Sozialismus von heute auf morgen eine Unmöglichkeit ist, es weiß, daß nichts anderes als ein bürgerlicher Rechtsstaat zustande kommen kann. Aber wir wären nicht würdig des Namens von Sozialdemokraten, nicht würdig, Schüler von Marx und Engels zu sein, wenn wir an der bloßen Form kleben und nicht unterscheiden würden, daß unter ein und derselben Form verschiedener sozialer und geschichtlicher Inhalt stecken kann. Gerade aus dem Umstande, daß unser Rechtsstaat von der schwieligen Hand des Proletariats geformt wird, wird er die festen Eindrücke erhalten, die mehr dem Proletariat als dem Bürgertum zugute kommen. Das russische Proletariat kämpft zunächst um die bürgerliche Freiheit, um das allgemeine Wahlrecht, die Republik, das Vereinsgesetz, die Preßfreiheit usw., aber es kämpft nicht mit den Illu‑

Nächste Seite »