Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 164

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die größeren Zusammenhänge und den Überblick über die Gesamtlage verlieren. Nur dadurch kann erklärt werden, daß die deutschen[1] Gewerkschaftsführer z. B. mit so großer Genugtuung auf die Errungenschaften der letzten 15 Jahre, auf die Millionen Mark Lohnerhöhungen hinweisen, anstatt umgekehrt den Nachdruck auf die andere Seite der Medaille zu legen: auf die gleichzeitig stattgefundene ungeheure Herabdrückung der proletarischen Lebenshaltung durch den Brotwucher, durch die gesamte Steuer- und Zollpolitik, durch den Bodenwucher, der die Wohnungsmieten in so exorbitanter Weise in die Höhe getrieben hat, mit einem Wort, auf all die objektiven Tendenzen der bürgerlichen Politik, die jene Errungenschaften der 15jährigen gewerkschaftlichen Kämpfe zu einem großen Teil wieder illusorisch machen[2]. Aus der ganzen sozialdemokratischen Wahrheit, die neben der Betonung der Gegenwartsarbeit und ihrer absoluten Notwendigkeit das Hauptgewicht auf die Kritik und die Schranken dieser Arbeit legt, wird so die halbe gewerkschaftliche Wahrheit zurechtgestutzt, die nur das Positive des Tageskampfes hervorhebt. Und schließlich wird aus dem Verschweigen der dem gewerkschaftlichen Kampfe gezogenen objektiven Schranken der bürgerlichen Gesellschaftsordnung eine direkte Feindseligkeit gegen jede theoretische Kritik, die auf diese Schranken im Zusammenhang mit den Endzielen der Arbeiterbewegung hinweist. Die unbedingte Lobhudelei, der grenzenlose Optimismus werden zur Pflicht jedes „Freundes der Gewerkschaftsbewegung“ gemacht. Da aber der sozialdemokratische Standpunkt gerade in der Bekämpfung des kritiklosen gewerkschaftlichen Optimismus ganz wie in der Bekämpfung des kritiklosen parlamentarischen Optimismus besteht, so wird schließlich gegen die sozialdemokratische Theorie selbst Front gemacht: Die Gewerkschaftsbeamten suchen[3] tastend nach einer „neuen[4] Theorie“, [die ihren Bedürfnissen und ihrer Auffassung entsprechen würde,] d. h. nach einer Theorie, die den gewerkschaftlichen Kämpfen im Gegensatz zur sozialdemokratischen Lehre auf dem Boden der kapitalistischen Ordnung ganz unbeschränkte Perspektiven des wirtschaftlichen Aufstiegs eröffnen würde. Eine solche Theorie existiert freilich schon seit geraumer Zeit: Es ist dies die Theorie von Prof. Sombart, die ausdrücklich mit der Absicht aufgestellt wurde, einen Keil zwischen die Gewerkschaften und die Sozialdemokratie in Deutschland zu treiben und die Gewerkschaften auf bürgerlichen Boden hinüberzulocken.

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[1] 1. Auflage: daß manche.

[2] 1. Auflage: wettmachen.

[3] 1. Auflage: Man sucht.

[4] 1. Auflage: eingefügt „gewerkschaftlichen“.