Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 165

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Im engsten Zusammenhang mit diesem theoretischen Umschwung bei einem Teil der Gewerkschaftsführer steht – auch dies ganz im Sinne der Sombartschen Theorie – ein Umschwung im Verhältnis der Führer zur Masse. An Stelle der kollegialen, unentgeltlichen, aus reinem Idealismus betriebenen gewerkschaftlichen Agitation durch lokale Kommissionen der Genossen selbst tritt die geschäftsmäßige, bürokratisch geregelte Leitung des meistens von auswärts hergeschickten Gewerkschaftsbeamten. Durch die Konzentrierung der Fäden der Bewegung in seinen Händen wird auch die Urteilsfähigkeit in gewerkschaftlichen Dingen zu seiner Berufsspezialität. Die Masse der Genossen wird zur urteilsunfähigen Masse degradiert, der hauptsächlich die Tugend der „Disziplin“, d. h. des passiven Gehorsams, zur Pflicht gemacht wird. Im Gegensatz zur Sozialdemokratie, wo entgegen dem tendenziösen Märchen von der „Bebelschen Diktatur“ tatsächlich durch die Wählbarkeit und die kollegiale Geschäftsführung der größte Demokratismus herrscht, wo der Parteivorstand tatsächlich nur ein Verwaltungsorgan ist, besteht in den Gewerkschaften in einem viel höheren Maße das Verhältnis der Obrigkeit zu der untergebenen Masse.[1] Eine Blüte dieses Verhältnisses ist nämlich[2] die Argumentation, mit der jede theoretische Kritik an den Aussichten und Möglichkeiten der Gewerkschaftspraxis verpönt wird, weil sie angeblich eine Gefahr für die gewerkschaftsfromme Gesinnung der Masse darstelle. Es wird dabei von der Ansicht ausgegangen, daß die Arbeitermasse nur bei blindem, kindlichem Glauben an das Heil des Gewerkschaftskampfes für die Organisation gewonnen und erhalten werden könne. Im Gegensatz zur Sozialdemokratie, die gerade auf der Einsicht der Masse in die Widersprüche der bestehenden Ordnung und in die ganze komplizierte Natur ihrer Entwicklung, auf dem kritischen Verhalten der Masse zu allen Momenten und

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[1] 1. Auflage: Im engen Zusammenhang mit diesen theoretischen Tendenzen steht ein Umschwung im Verhältnis der Führer zur Masse. An Stelle der kollegialen Leitung durch lokale Kommissionen mit ihren zweifellosen Unzulänglichkeiten tritt die geschäftsmäßige Leitung des Gewerkschaftsbeamten. Die Initiative und die Urteilsfähigkeit werden damit sozusagen zu seiner Berufsspezialität, während der Masse hauptsächlich die mehr passive Tugend der Disziplin obliegt. Diese Schattenseiten des Beamtentums bergen sicherlich auch für die Partei bedeutende Gefahren in sich, die sich aus der jüngsten Neuerung, aus der Anstellung der lokalen Parteisekretäre, sehr leicht ergeben können, wenn die sozialdemokratische Masse nicht darauf bedacht sein wird, daß die genannten Sekretäre reine Vollziehungsorgane bleiben und nicht etwa als die berufenen Träger der Initiative und der Leitung des lokalen Parteilebens betrachtet werden. Allein dem Bürokratismus sind in der Sozialdemokratie durch die Natur der Sache, durch den Charakter des politischen Kampfes selbst engere Grenzen gezogen als im Gewerkschaftsleben. Hier bringt gerade die technische Spezialisierung der Lohnkämpfe, z. B. der Abschluß von komplizierten Tarifverträgen und dergleichen, mit sich, daß der Masse der Organisierten häufig der „Überblick über das gesamte Gewerbsleben“ abgesprochen und damit ihre Urteilsunfähigkeit begründet wird.

[2] 1. Auflage: dieser Auffassung ist namentlich auch.