Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 163

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-2/seite/163

der Gewerkschaftsführer und der gewerkschaftlich organisierten proletarischen Masse ist.

Das starke Wachstum der Gewerkschaftsbewegung in Deutschland im Laufe der letzten 15 Jahre, besonders in der Periode der wirtschaftlichen Hochkonjunktur 1895–1900, hat von selbst eine große Verselbständigung der Gewerkschaften, eine Spezialisierung ihrer Kampfmethoden und ihrer Leitung und endlich das Aufkommen eines regelrechten gewerkschaftlichen Beamtenstandes mit sich gebracht. All diese Erscheinungen sind ein vollkommen erklärliches und natürliches geschichtliches Produkt des fünfzehnjährigen Wachstums der Gewerkschaften, ein Produkt der wirtschaftlichen Prosperität und der politischen Windstille in Deutschland. Sie sind, was namentlich auf den Beamtenstand der Gewerkschaften zutrifft[1], ein historisch notwendiges Übel. Allein die Dialektik der Entwicklung bringt es eben mit sich, daß diese notwendigen Förderungsmittel des gewerkschaftlichen Wachstums auf einer gewissen Höhe der Organisation und auf[2] einem gewissen Reifegrad der Verhältnisse in ihr Gegenteil, in Hemmnisse des weiteren Wachstums umschlagen.

Die Spezialisierung ihrer Berufstätigkeit als gewerkschaftlicher Leiter sowie der naturgemäß enge Gesichtskreis, der mit den zersplitterten ökonomischen Kämpfen in einer ruhigen Periode verbunden ist, führen bei den Gewerkschaftsbeamten nur zu leicht zum Bürokratismus wie zur Borniertheit[3] der Auffassung. Beides äußert sich aber in einer ganzen Reihe von Tendenzen, die für die Zukunft der gewerkschaftlichen Bewegung selbst höchst verhängnisvoll werden könnten. Dahin gehört vor allem die Überschätzung der Organisation, die aus einem Mittel zum Zweck allmählich in einen Selbstzweck, in ein höchstes Gut verwandelt wird, dem die Interessen des Kampfes [vielfach] untergeordnet werden[4]. Daraus erklärt sich auch jenes offen zugestandene Ruhebedürfnis, das vor einem größeren Risiko und vor vermeintlichen Gefahren für den Bestand der Gewerkschaften, vor der Ungewißheit größerer Massenaktionen zurückschreckt, ferner die Überschätzung der gewerkschaftlichen Kampfesweise selbst, ihrer Aussichten und ihrer Erfolge. Die beständig von dem ökonomischen Kleinkrieg absorbierten Gewerkschaftsleiter, die es zur Aufgabe haben, den Arbeitermassen den hohen Wert jeder noch so geringen ökonomischen Errungenschaft, jeder Lohnerhöhung oder Verkürzung der Arbeitszeit plausibel zu machen, kommen allmählich dahin, daß sie selbst

Nächste Seite »



[1] 1. Auflage: Sie sind, wenn auch von gewissen Übelständen unzertrennlich, doch zweifellos.

[2] 1. Auflage: bei.

[3] 1. Auflage: und zu einer gewissen Enge.

[4] 1. Auflage: eingefügt „sollen“.