Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 162

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diese ihnen so beleidigend erscheinende, in Wirklichkeit höchst schmeichelhafte Zumutung [leider] in Deutschland durch den einfachen Umstand zur Phantasie gemacht, weil die Verhältnisse gerade[1] umgekehrt liegen; es ist die Sozialdemokratie, die in Deutschland die Rekrutenschule für die Gewerkschaften bildet. Wenn auch das Organisationswerk der Gewerkschaften meistens noch ein sehr schweres und mühseliges ist, [so daß es bei den Gewerkschaftsleitern die Illusion erweckt und nährt, als seien sie es, die in das proletarische Neuland die ersten Furchen ziehen und die erste Saat versenken,] so ist tatsächlich[2] nicht bloß der Boden bereits durch den sozialdemokratischen Pflug urbar gemacht worden, sondern die gewerkschaftliche Saat selbst und endlich der Säemann müssen auch noch „rot“, sozialdemokratisch sein, damit die Ernte gedeiht. Wenn wir aber auf diese Weise die gewerkschaftlichen Stärkezahlen nicht mit den sozialdemokratischen Organisationen, sondern, was das einzig richtige ist, mit der sozialdemokratischen Wählermasse vergleichen, so kommen wir zu einem Schluß, der von dem triumphierenden Siegesbewußtsein der Gewerkschaftsführer[3] bedeutend abweicht. Es stellt sich nämlich heraus, daß die „freien Gewerkschaften“ heute tatsächlich noch die Minderheit der klassenbewußten Arbeiterschaft Deutschlands darstellen, haben sie doch mit ihrer[4] Million Organisierter noch nicht [einmal] die Hälfte der [ihnen] von der Sozialdemokratie zugeschanzten[5][, für den Klassenkampf gewonnenen] Masse ausschöpfen können.

Der wichtigste Schluß aus den angeführten Tatsachen ist der, daß die für die kommenden Massenkämpfe in Deutschland unbedingt notwendige völlige Einheit der gewerkschaftlichen und der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung tatsächlich vorhanden ist, und zwar ist sie verkörpert in der breiten Masse, die gleichzeitig die Basis der Sozialdemokratie wie der Gewerkschaften bildet und in deren Bewußtsein beide Seiten der Bewegung zu einer geistigen Einheit verschmolzen sind. Der angebliche Gegensatz zwischen Sozialdemokratie und Gewerkschaften schrumpft bei dieser Sachlage zu einem Gegensatz zwischen der Sozialdemokratie und der oberen Schicht[6] der Gewerkschaftsbeamten zusammen, der aber zugleich ein Gegensatz innerhalb der Gewerkschaften zwischen einem[7] Teil

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[1] 1. Auflage: meistens.

[2] 1. Auflage: so ist, abgesehen von manchen Gegenden und Fällen, im großen und ganzen.

[3] 1. Auflage: von der landläufigen Vorstellung in dieser Hinsicht.

[4] 1. Auflage: eingefügt „1 1/4“.

[5] 1. Auflage: aufgerüttelten.

[6] 1. Auflage: und einem gewissen Teil.

[7] 1. Auflage: diesem.