Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 161

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tische Gewerkschaften auffaßt. Kurz, der Schein der „Neutralität“, der für die[1] Gewerkschaftsführer existiert, besteht für die Masse der gewerkschaftlich Organisierten nicht. Und dies ist das ganze Glück der Zentralverbände[2]. Sollte jener Schein der „Neutralität“, jene Entfremdung und Loslösung der Gewerkschaften von der Sozialdemokratie je zur Wahrheit und namentlich in den Augen der proletarischen Masse zur Wirklichkeit werden, dann würden die Gewerkschaften sofort ihren ganzen Vorzug gegenüber den bürgerlichen Konkurrenzverbänden und damit auch ihre Werbekraft, ihr belebendes Feuer verlieren. Das Gesagte wird durch allgemein bekannte Tatsachen schlagend bewiesen. Der Schein der parteipolitischen „Neutralität“ der Gewerkschaften könnte nämlich als Anziehungsmittel hervorragende Dienste leisten in einem Lande, wo die Sozialdemokratie selbst keinen Kredit bei den Massen besitzt, wo ihr Odium einer Arbeiterorganisation in den Augen der Masse noch eher schadet als hilft[3], wo, mit einem Wort, die Gewerkschaften ihre Truppen erst aus einer ganz unaufgeklärten, bürgerlich gesinnten Masse selbst rekrutieren müssen.

Das Muster eines solchen Landes war das ganze vorige Jahrhundert hindurch und ist auch heute noch in hohem Maße – England. In Deutschland jedoch liegen die Parteiverhältnisse ganz anders. In einem Lande, wo die Sozialdemokratie die mächtigste politische Partei ist, wo ihre Werbekraft durch ein Heer von über drei Millionen Proletariern dargestellt wird, da ist es lächerlich, von dem abschreckenden Odium der Sozialdemokratie zu sprechen und von der Notwendigkeit einer Kampforganisation der Arbeiter, die politische Neutralität zu heucheln[4]. Die bloße Zusammenstellung der Ziffer der sozialdemokratischen Wähler mit den Ziffern der gewerkschaftlichen Organisationen in Deutschland genügt, um für jedes Kind klarzumachen, daß die deutschen Gewerkschaften ihre Truppen nicht, wie in England, aus der unaufgeklärten bürgerlich gesinnten Masse, sondern aus der Masse der bereits durch die Sozialdemokratie aufgerüttelten und für den Gedanken des Klassenkampfes gewonnenen Proletarier, aus der sozialdemokratischen Wählermasse werben. Die[5] Gewerkschaftsführer weisen mit Entrüstung – dies ein Requisit der „Neutralitätstheorie“ – den Gedanken von sich, die Gewerkschaften als Rekrutenschule für die Sozialdemokratie zu betrachten. Tatsächlich ist

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[1] 1. Auflage: manche.

[2] 1. Auflage: Gewerkschaftsbewegung.

[3] 1. Auflage: nützt.

[4] 1 Auflage: wahren.

[5] 1. Auflage: Manche.