Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 158

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die tätigsten Träger ihrer Organisation. Zweitens sind die deutschen Gewerkschaften ein Produkt der Sozialdemokratie auch in dem Sinne, daß die sozialdemokratische Lehre die Seele der gewerkschaftlichen Praxis bildet, die Gewerkschaften verdanken ihre Überlegenheit über alle bürgerlichen und konfessionellen Gewerkschaften dem Gedanken des Klassenkampfes; ihre praktischen Erfolge, ihre Macht sind ein Resultat des Umstandes, daß ihre Praxis von der Theorie des wissenschaftlichen Sozialismus erleuchtet und über die Niederungen eines engherzigen Empirismus gehoben ist. Die Stärke der „praktischen Politik“ der deutschen Gewerkschaften liegt in ihrer Einsicht in die tieferen sozialen und wirtschaftlichen Zusammenhänge der kapitalistischen Ordnung; diese Einsicht verdanken sie aber niemand anderem als der Theorie des wissenschaftlichen Sozialismus, auf der sie in ihrer Praxis fußen. In diesem Sinne bedeutet[1] jenes Suchen nach der Emanzipierung der Gewerkschaften von der sozialdemokratischen Theorie, nach einer anderen „gewerkschaftlichen Theorie“ im Gegensatz zur Sozialdemokratie[, dieses Suchen ist] vom Standpunkte der Gewerkschaften selbst[2] nichts anderes als ein Selbstmordversuch. Die Loslösung der gewerkschaftlichen Praxis von der Theorie des wissenschaftlichen Sozialismus würde für die deutschen Gewerkschaften einen sofortigen Verlust der ganzen Überlegenheit gegenüber allen bürgerlichen Gewerkschaftssorten, einen Sturz von ihrer bisherigen Höhe auf das Niveau eines haltlosen Tastens und reinen, platten Empirismus bedeuten.

Endlich aber, drittens, sind die Gewerkschaften, wovon ihre Führer allmählich das Bewußtsein verloren haben, auch direkt, in ihrer zahlenmäßigen Stärke, ein Produkt der sozialdemokratischen Bewegung und der sozialdemokratischen Agitation[3] Manche Gewerkschaftsleiter pflegen gern mit einigem Triumph [und einiger Schadenfreude] von der stolzen Höhe ihrer 11/4 Million Mitglieder auf die armselige, noch nicht volle halbe Million der organisierten Mitglieder der Sozialdemokratie herabzublicken und sie an jene Zeiten vor 10 bis 12 Jahren zu erinnern, wo man in den Reihen der Sozialdemokratie über die Perspektiven der gewerkschaftlichen Entwicklung noch pessimistisch dachte. Sie bemerken gar nicht, daß zwischen diesen zwei Tatsachen: der hohen Ziffer der Gewerkschaftsmit‑

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[1] 1. Auflage: ist.

[2] 1. Auflage: eingefügt „und ihrer Zukunft“.

[3] 1. Auflage: eingefügt „Gewiß ging und geht die gewerkschaftliche Agitation in manchen Gegenden der sozialdemokratischen voran, und überall ebnet die gewerkschaftliche Arbeit auch der Parteiarbeit die Wege. Vom Standpunkt ihrer Wirkung arbeiten Partei und Gewerkschaften einander völlig in die Hand. Allein, wenn man das Bild des Klassenkampfes in Deutschland im ganzen und in seinen tiefer liegenden Zusammenhängen überblickt, so verschiebt sich das Verhältnis erheblich“.