Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 8

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die Bourgeoisie erkämpft. Die Arbeiterklasse tritt aber, obwohl oder vielmehr weil zum erstenmal als selbständige klassenbewußte Schicht, nicht mit den utopisch-sozialistischen Illusionen auf, mit denen sie im Verein mit dem Kleinbürgertum in den früheren bürgerlichen Revolutionen auftrat. Das Proletariat in Rußland stellt sich heute nicht zur Aufgabe, den Sozialismus zu verwirklichen, sondern erst die kapitalistisch-bürgerlichen Vorbedingungen zur Verwirklichung des Sozialismus zu schaffen. Aber zugleich bekommt die bürgerliche Gesellschaft dadurch, daß sie aus den Händen eines klassenbewußten Proletariats hervorgeht, ein ganz eigenartiges Gepräge. Die Arbeiterklasse in Rußland stellt sich zwar nicht zur Aufgabe, den Sozialismus unmittelbar zu verwirklichen, doch ebensowenig stellt sie sich zur Aufgabe, die unantastbare und ungetrübte Herrlichkeit der kapitalistischen Klassenherrschaft auf den Schild zu erheben, wie sie aus den bürgerlichen Revolutionen des vorigen Jahrhunderts im Westen hervorgegangen war.

Das Proletariat in Rußland führt vielmehr gleichzeitig und in einer Aktion den Kampf sowohl gegen den Absolutismus wie gegen den Kapitalismus. Es will nur die Formen der bürgerlichen Demokratie, aber es will sie für sich, für die Zwecke des proletarischen Klassenkampfes. Es will den Achtstundentag, die Volksmiliz, die Republik – lauter Forderungen, die auf die bürgerliche Gesellschaft, nicht auf die sozialistische berechnet sind. Aber diese Forderungen stoßen hier zugleich so hart an die äußerste Grenze der Kapitalsherrschaft, daß sie als ebenso viele Übergangsformen zu einer proletarischen Diktatur erscheinen. Das Proletariat in Rußland kämpft für die Verwirklichung der elementarsten bürgerlichen Verfassungsrechte: Vereins- und Versammlungsrecht, Koalitionsrecht, Preßfreiheit. Es benutzt aber diese bürgerlichen Freiheiten bereits jetzt, im Sturme der Revolution, zur Schaffung einer so mächtigen wirtschaftlichen und politischen Klassenorganisation des Proletariats – Gewerkschaften und Sozialdemokratie –, daß während aus der Revolution die formal zur Herrschaft berufene Klasse, die Bourgeoisie, in beispielloser Schwäche hervorgehen, die formal beherrschte, die Arbeiterklasse, eine beispiellose Machtstellung einnehmen wird.

So geht die heutige Revolution in Rußland in ihrem Inhalt über die bisherigen Revolutionen weit hinaus, und sie kann in ihren Methoden weder an die alten bürgerlichen Revolutionen noch an die bisherigen – parlamentarischen – Kämpfe des modernen Proletariats anknüpfen. Sie hat eine neue Kampfmethode geschaffen, die ihrem proletarischen Charakter wie der Verbindung des Kampfes um die Demokratie mit dem Kampfe

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