Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 65

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-2/seite/65

kratie: 1. daß die höheren Beamten und Richter, die in der Verfahrensführung in Ämtern und Gerichten die Richtung bestimmen, von der gesamten erwachsenen Bevölkerung in allgemeinen, gleichen, geheimen und direkten Wahlen gewählt werden; 2. daß jeder Beamte und Richter, vom höchsten bis zum niedrigsten, von jedem Menschen, dem durch Übertretung von Gesetzen Unrecht zugefügt wurde, vor einem Sondergericht verklagt werden kann;

6. die Gleichheit aller vor dem Gesetz

Solange die kapitalistische Gesellschaft besteht, ist eine echte und wirkliche Gleichheit aller Menschen unmöglich. Solange alle Produktionsmittel und Quellen des Reichtums: der Boden, die Fabriken, die Maschinen usw., Privateigentum einer Handvoll Besitzer sein werden und die große Volksmasse vom Verkauf ihrer Arbeitskraft leben wird, so lange wird sich die Menschheit in Ausbeuter und Ausgebeutete, Reiche und Arme, Herrschende und Unterdrückte teilen, in solche, die Bildung genießen, und solche, die der Möglichkeit sich zu bilden beraubt sind. Erst die Abschaffung der Ausbeuter, der Lohnarbeit und der Klassenherrschaft wird die echte Gleichheit in der menschlichen Gesellschaft verwirklichen.

Wenn aber das werktätige Volk in der heutigen Gesellschaftsordnung zur sozialen Ungleichheit verurteilt ist, von der es erst die sozialistische Ordnung befreien wird, so kann es schon im heutigen bürgerlichen Staat wenigstens die formale Gleichheit vor dem Gesetz fordern. Da die Herrschaft des Kapitals die Arbeiterklasse ökonomisch, politisch und geistig schon benachteiligt, so müßten wenigstens das Gesetz und die Gerichte für alle gleich und dieselben sein. Die formale Ungleichheit vor dem Gesetz ist ein Überrest aus mittelalterlichen Zeiten, aus den Zeiten der Adelsherrschaft und der Leibeigenschaft. Im Mittelalter bestand eine gesetzliche Einteilung in verschiedene „Stände“: Adel, Geistlichkeit, Bürgertum und Hörige, und jeder Stand hatte andere Gesetze und Gerichte. Wenn zum Beispiel ein Mensch erschlagen worden war, so erwartete den Täter verschiedene Strafe, je nachdem, ob er ein Adliger oder ein Bauer war, wobei natürlich das Leben und die Rechte der Adelsherren oder Bürger weit höher geschätzt und ihre Verletzung viel strenger bestraft wurden als die Verletzung der Rechte und die Angriffe auf das Leben der Bauern und der Hörigen.

In den Revolutionen des 19. Jahrhunderts wurde in Westeuropa die Herrschaft des Adels gestürzt und die moderne Herrschaft der Bourgeoisie mit politischen Freiheiten eingeführt; damals wurden auch überall diese formalen Standesunterschiede vor dem Gesetz abgeschafft. Der russische

Nächste Seite »