Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 559

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reichsländische Verfassungsreform erstanden ist. Keine Versammlungen, keine Demonstrationen für das preußische Wahlrecht, obwohl die allgemeine Stimmung im Lande eine so stürmische und kampflustige ist, alle unsre Versammlungen so glänzend besucht sind wie seit Jahren nicht. Man muß gestehen, daß, wenn der kreißende Berg nur dieses winzige Mäuslein in Gestalt des sogenannten „Aufrufs“ vom ...[1] geboren hat, dann ist es wirklich schade um die Reisekosten, die die jüngste preußische Landeskonferenz verursacht hat. Soll aber der preußische Wahlrechtskampf nicht ganz von der Tagesordnung des Parteilebens verschwinden, dann muß er in der Tagesordnung des Parteitags berücksichtigt werden. Die Gesamtpartei muß sich so lange mit der Frage regelmäßig befassen, das Feuer des Kampfes immer weiter schüren, bis sie gelöst ist. Auch hier werden die Reichstagswahlen, eine so große Rolle das preußische Wahlrecht dabei spielen mag, nicht von selbst die Lösung bringen. Der Kampf der Massen um das preußische Wahlrecht wie alle andern wichtigen und dauernden Interessen dürfen von der bevorstehenden Parlamentswahl nicht einfach verschlungen werden. Und deshalb ist eine Erweiterung und Ergänzung der Tagesordnung in Jena notwendig, die bis jetzt nur ein Interesse und eine Aufgabe der Sozialdemokratie kennt: die Reichstagswahlen.

Leipziger Volkszeitung,

Nr. 147 vom 29. Juni 1911.

<560> Galizische Wahlagitation

Leipzig, 7. Juli

In dem allgemeinen Bild der österreichischen Reichsratswahlen[2] schneidet das polnische Kronland sehr gut ab. Während die Sozialdemokratie in zahlreichen Industriezentren ihre Sitze verloren hat, behält sie in Galizien ihren Besitzstand und kann sogar einen Zuwachs von zwei Mandaten verzeichnen. Würde es also bei den Wahlen lediglich auf die Zahl der Mandate ankommen, dann könnten unsere galizischen Genossen auf die von ihnen geleistete Arbeit mit berechtigtem Stolz zurückblicken. Für die Partei des klassenbewußten Proletariats sind jedoch alle Parlamentswahlen in erster Linie eine hervorragende Gelegenheit zur Agitation im Sinne und Geiste des sozialdemokratischen Programms, zur Verbreitung der politischen Aufklärung der sozialistischen Weltanschauung in den Massen der arbeitenden Bevölkerung. Nur soweit eine solche Wahlagitation mit aller Offenheit und Schärfe getrieben wird, können wir die von uns erworbenen Stimmen und die errungenen Mandate mit Fug und Recht als einen Machtzuwachs der Sozialdemokratie betrachten.

Freilich ist die Sozialdemokratie in ihrem praktischen Wirken in hohem Maße an das soziale und politische Milieu des Landes gebunden, in dem sie tätig ist. Es bedarf keiner besonderen Anstrengungen, um scharf prinzipielle sozialistische Agitation in einem Lande der höchsten kapitalistischen Entwicklung und der schärfsten Zuspitzung der Klassengegensätze wie Deutschland zu treiben. Im Gegenteil gehört schon eine tüchtige Portion opportunistischer Gehirnerweichung dazu, um hier die revolutionäre Seite des Klassenkampfs, die sozialistischen Endziele in der Wahlagitation zurückzustellen oder zu verschleiern. Viel schwieriger gestaltet sich die Aufgabe der Sozialdemokratie in einem zurückgebliebenen kleinbür-

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[1] Auslassungspunkte in der Quelle.

[2] Die Reichsratswahlen in Österreich-Ungarn waren am 13. Juni 1911 durchgeführt worden.