Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 497

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vergrößert, eine Reihe neuer Staaten sind in den aktiven Kampf auf der Weltbühne getreten, alle Großmächte machten eine gründliche militärische Reorganisation durch. Die Gegensätze haben infolge all dieser Vorgänge eine nie dagewesene Zuspitzung erreicht, und der Prozeß dauert immer weiter, da einerseits die Gärung im Orient mit jedem Tage zunimmt, anderseits jede neue Vereinbarung zwischen den Militärmächten unvermeidlich zum Ausgangspunkt neuer Konflikte wird. Die Revaler Entente zwischen Rußland, England und Frankreich[1], die Jaurès als eine Gewähr des Weltfriedens feierte, führte zur Verschärfung der Krise auf dem Balkan, beschleunigte den Ausbruch der türkischen Revolution, ermutigte Rußland zur militärischen Aktion in Persien und führte zur Annäherung zwischen der Türkei und Deutschland, die ihrerseits den deutsch-englischen Gegensatz zuspitzte. Die Potsdamer Vereinbarung[2] hat die Verschärfung der Krise in China zur Folge, und von derselben Wirkung war die russisch-japanische Verständigung.

Rechnet man also einfach mit Tatsachen, so hieße es absichtlich die Augen verschließen, wenn man nicht einsehen wollte, daß aus diesen Tatsachen alles andre denn eine Milderung der internationalen Konflikte und irgendwelche Ansätze zum Weltfrieden sprechen.

Wie kann man angesichts dessen von Friedenstendenzen der bürgerlichen Entwicklung reden, die angeblich ihre Kriegstendenzen durchkreuzen und überwinden? Worin sind sie zum Ausdruck gekommen?

In der Kundgebung Sir Edward Greys und des französischen Parlaments? In der „Rüstungsmüdigkeit“ der Bourgeoisie? Aber die mittleren und die kleinbürgerlichen Schichten der Bourgeoisie stöhnen seit jeher über die Last des Militarismus, genauso wie sie über die Verwüstungen der freien Konkurrenz, über die wirtschaftlichen Krisen, über die Gewissenlosigkeit der Börsenspekulation, über den Terrorismus der Kartelle und Trusts stöhnen. Die Tyrannei der Trustmagnaten in Amerika hat sogar einen ganzen Aufruhr breiter Volksschichten und eine langwierige Aktion der Staatsgewalten gegen sie hervorgerufen. Erblickt etwa die Sozialdemokratie hierin die Anzeichen einer beginnenden Einschränkung der Trustentwicklung, oder hat sie nicht vielmehr für jenen kleinbürgerlichen Aufruhr ein mitleidiges Achselzucken und für jene Staatsaktion nur ein höhnisches Lächeln übrig? Die „Dialektik“ der Friedenstendenz der kapitalistischen Entwicklung, die ihre Kriegstendenz angeblich durchkreuzt und über sie obsiegt, läuft einfach auf die alte Binsenwahrheit hinaus, daß


[1] Am 9. und 10. Juni 1908 fand in Reval eine Zusammenkunft des Zaren Nikolaus II. mit dem englischen König Eduard VII. statt, auf der die 1907 abgeschlossenen Verträge und die Übereinstimmung der Ansichten über die Lage in Persien, Afghanistan und Makedonien bekräftigt wurden. – Armand Fallières, seit 1906 Präsident Frankreichs, kam am 27. und 28. Juli 1908 mit dem Zaren in Reval zusammen, um das russisch-französische Bündnis zu bekräftigen.

[2] Am 4. November 1910 war der russische Zar Nikolaus II. zu einem mehrtägigen offiziellen Besuch nach Deutschland gekommen. Aus diesem Anlaß verhandelte der ihn begleitende Außenminister, S. D. Sasonow, mit dem deutschen Staatssekretär des Auswärtigen, Alfred von Kiderlen-Wächter, in Potsdam über die Abgrenzung der beiderseitigen Interessen in Persien und über Fragen der Bagdadbahn. Die Verhandlungen scheiterten an den zu weit gehenden deutschen Forderungen.

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