Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 460

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-2/seite/460

kann, ohne den geringsten praktischen Erfolg, wenn die Bedingungen zu seiner Verwirklichung fehlen, so ist es die Geschichte der Idee des Generalstreiks selbst. Sie wissen, daß die Anarchisten vom Schlage Domela Nieuwenhuis’[1] jahrzehntelang den Generalstreik anpriesen als eine Panazee gegen alle Übel der bestehenden Gesellschaftsordnung und gegen den Krieg, als ein Mittel zur Herbeiführung der sozialen Revolution binnen 24 Stunden. Und heutzutage, wer führt den Generalstreik mehr im Munde als die französischen Syndikalisten anarchistischer Observanz? Das Hausieren mit der Generalstreiksidee durch Nieuwenhuis hat nicht ein Jota an ernsten Erfolgen zu verzeichnen, kein Mensch hat sich darum gekümmert. Und das Land, wo der Genrealstreik am wenigsten in der Praxis hervorgetreten ist, ist heute Frankreich, wo die Syndikalisten ihn stets im Munde führen.

So beweist die Geschichte dieser Idee selbst, daß nicht das Propagieren, die Erörterung, das Anpreisen des Massenstreiks künstlich den Massenstreik hervorrufen kann, sondern einzig und allein die Reife der historischen und wirtschaftlichen Bedingungen. Erst im letzten Jahrzehnt, seitdem wir den machtvollen Zusammenschluß des Kapitals zu Kartellen, die Aussperrungspolitik, die beispiellose Verschärfung der Klassengegensätze haben, zeigt es sich, daß in einem Lande nach dem anderen Massenstreiks ausbrechen, nicht, weil sie einst von Anarchisten propagiert wurden, sondern weil die historischen Bedingungen sie erforderten.

Für uns im preußischen Wahlrechtskampf ergibt sich die Losung des Massenstreiks aus der einfachen Tatsache, daß das Proletariat einzig und allein auf sich, auf seine eigene Kraft angewiesen ist, um diesem Kampfe zum Siege zu verhelfen. Als schärfste Form der selbständigen politischen Aktion des Proletariats ist der Massenstreik bei uns in Preußen-Deutschland zugleich ein Produkt der Verschärfung der Klassengegensätze, des Verfalls des bürgerlichen Liberalismus, der bürgerlichen Demokratie, des Zusammenschlusses aller bürgerlichen Parteien gegen uns, ein Produkt der ganzen geschichtlichen Entwicklung der letzten Jahrzehnte.

So aufgefaßt, auf eine solche Basis gestellt, bedeutet die Erörterung des Massenstreiks nicht das künstliche Hervorzaubern eines Massenstreiks ohne Grund und ohne die Bedingungen der Wirksamkeit, sondern sie ist ein hervorragendes Aufklärungsmittel für die Massen, ein hervorragendes Mittel der politischen Erziehung und der Vertiefung der politischen Auffassung der proletarischen Massen. („Sehr richtig!“)

Nicht als ein wundertätiges Mittel, das nur aus der Tasche gezogen zu

Nächste Seite »



[1] Unter Führung des niederländischen Sozialdemokraten Domela Nieuwenhuis trat in der internationalen Arbeiterbewegung eine halbanarchistische Gruppe mit der Forderung auf, das Proletariat solle auf jede Kriegserklärung mit einem Generalstreik antworten und den Wehrdienst verweigern. Auf dem Internationalen Arbeiterkongreß in Brüssel im August 1891 waren diese Auffassungen von der überwältigenden Mehrheit der Delegierten abgelehnt worden.