Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 44

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Apostel mit der Propaganda des gemeinsamen Eigentums und der Angleichung der Schicksale von Reichen und Armen verbunden. Im 16. Jahrhundert, als sich in Deutschland die blutigen Bauernkriege abspielten, das heißt, als sich die empörten leibeigenen Bauern zum Kampf erhoben, verkündete einer ihrer Hauptführer, der edle Thomas Münzer, das Evangelium des Gemeineigentums.

Aber die Verwirklichung dieses Ideals war bisher nicht möglich und wurde erst durch die Entwicklung der maschinellen Großindustrie durchführbar. Erst der Kapitalismus steigerte die Arbeitsproduktivität des Menschen in einem solchen Maße, daß bei der gegenwärtigen Produktionstechnik sogar schon ein sechsstündiger Arbeitstag aller erwachsenen Mitglieder der Gesellschaft ausreichen würde, um die Mittel für ein Leben im Überfluß für alle zu schaffen. Und erst der Kapitalismus schuf eine Gesellschaftsklasse, die den großen Umsturz durchzuführen vermag – das heutige Industrie- und Landproletariat. Der unglückliche Sklave im antiken Griechenland und Rom war nur in der Lage, von Zeit zu Zeit aus Verzweiflung fruchtlose Aufstände zu unternehmen, und ging dann unter Qualen durch die Hand seiner rachsüchtigen Herren zugrunde. Der mittelalterliche leibeigene Bauer konnte sich zu nichts entschließen außer zu elementaren Empörungen, zur Brandschatzung der Höfe des Adels, und dann mußte er, erdrückt von der Übermacht, in sein früheres Joch zurückkehren. Die moderne Arbeiterklasse stellt in der Geschichte der Menschheit die erste ausgebeutete und unterdrückte Klasse dar, die imstande ist, sich selbst und die ganze Menschheit vom Schrecken der Herrschaft einiger Menschen über die anderen Menschen zu befreien. Wir sind gewöhnt, die neue Ära der Menschheitsgeschichte von der Geburt Christi an zu zählen. Aber das Christentum hat die Leiden der ausgebeuteten Volksmassen nicht im geringsten gemindert. In eine wahrhaft neue Ära wird die Menschheit erst mit dem sozialistischen Umsturz eintreten.

Zwar halten auch heute noch die sogenannten vernünftigen Menschen den Sozialismus für ein Hirngespinst, für den Auswuchs einer kranken Phantasie. Aber zu allen Zeiten gab es Leute, die nicht weiter in die Zukunft sahen, als ihre Nase reichte, und die alles Neue fürchteten. Als seinerzeit in Deutschland die Aufhebung der mittelalterlichen Zunftgesetze verkündet wurde, erklärten die Zunftmeisterlein, daß mit der Abschaffung der Zünfte die Welt ganz bestimmt aus den Fugen geraten werde. Und als zu Beginn des vorigen Jahrhunderts in Bayern zum ersten Mal eine Eisenbahn gebaut werden sollte, stellte der Stadtrat einer bayerischen Stadt fest, daß das Reisen mit der Eisenbahn für die mensch‑

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