Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 422

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-2/seite/422

Der Leitartikel „Der Kampf gegen die Monarchie“ sucht meine Behauptung zu entkräften, daß die „Neue Zeit“ und der „Vorwärts“ eine wichtige Unterlassung begangen hätten, als sie verabsäumten, bei der Behandlung der Erhöhung der preußischen Zivilliste[1] die Losung der Republik hervorzukehren. Diese meine Forderung würde Marx „polternde Ausbrüche einer eingebildeten Demagogie“[2] genannt haben, meint der Leitartikel. Weshalb? Man höre und staune: Deshalb, weil in den 40er Jahren in Deutschland ein wunderlicher Kauz von einem kleinbürgerlichen Demokraten lebte, Karl Heinzen mit Namen, der als echter und rechter kleinbürgerlicher Demokrat die Republik für das Alpha und Omega, für die Lösung aller sozialen Fragen hielt und gegen die sozialistische Agitation knurrte, die angeblich von der Hauptsache, wollte sagen vom Kampfe mit der Monarchie, ablenkte. Diesen Kauz belehrte denn auch Marx vor 60 Jahren: Die Arbeiter brauchen die Republik, sie teilen aber trotz alledem die bürgerlichen Illusionen des Herrn Heinzen nicht. „Sie können und müssen die bürgerliche Revolution als eine Bedingung der Arbeiterrevolution mitnehmen. Sie können sie aber keinen Augenblick als ihren Endzweck betrachten.“[3]

Weil also vor 60 Jahren in Deutschland ein Herr Karl Heinzen in der Republik den Nabel der Welt erblickte, sie als den „Endzweck“ des Kampfes betrachtete, darf heute, 60 Jahre später, die Sozialdemokratie, die in der Republik weder den Nabel der Welt noch den Endzweck des politischen Kampfes, sondern eine unter ihren zehn politischen Programmforderungen erblickt, diese. Programmforderung nicht ebensogut in der Agitation vertreten wie die neun übrigen Forderungen auch!

Herr Karl Heinzen ist gestorben und vermodert, die deutsche Bourgeoisie ist auf den Hund gekommen, von bürgerlichen Republikanern und kleinbürgerlichen Demokraten mitsamt ihren Illusionen ist nicht eine Spur, nicht ein Hauch, nicht einmal eine Erinnerung geblieben, und hätten wir nicht den Leitartikel der „Neuen Zeit“, der in dankenswerter Weise von Zeit zu Zeit aus dem reichen Schatz der Vergangenheit irgendeine Reliquie ans Licht zieht, so würde die Welt wahrscheinlich nicht einmal sehen, daß es in Deutschland je eine solche Spezies wie bürgerliche Republikaner gab. Und da soll heute, nach 40jähriger Tätigkeit der Sozialdemokratie, die bloße Hervorhebung unserer republikanischen Forderung bei den Arbei-

Nächste Seite »



[1] Am 9. Juni 1910 war im preußischen Abgeordnetenhaus gegen die Stimmen der Sozialdemokraten der Gesetzentwurf über die Erhöhung der Krondotation angenommen worden. Die Vorlage brachte für den preußischen Hof eine zusätzliche Bewilligung von 3.5 Millionen, so daß ihm jährlich insgesamt 19,2 Millionen Mark aus staatlichen Mitteln zur Verfügung gestellt werden mußten.

[2] Franz Mehring: Der Kampf gegen die Monarchie. In: Gesammelte Schriften, Bd. 15, S. 498.

[3] Karl Marx: Die moralisierende Kritik und die kritisierende Moral. In: Karl Marx, Friedrich Engels: Werke, Bd. 4, S. 352.