Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 413

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seinen Organisationen mehren“, zählt er nur „glücklich ausgefochtene Lohnbewegungen“. Jetzt brauchen wir überhaupt nichts dringender als „sichtbare Erfolge“, um den Massen zu imponieren. „Es gibt aber wenig Erfolge, die so sinnenfällig der Masse unsere steigende Kraft dokumentieren wie Wahlsiege, wie die Eroberung neuer Mandate.“[1] Also Reichstagswahlen und Mandate – das ist Moses und die Propheten!

Jetzt hören wir, daß der deutsche Arbeiter nur für Kundgebungen „ohne Risiko“ zu haben ist, daß „ein bloßer Demonstrationsstreik nicht einmal die eindrucksvollste“ Form des politischen Protestes ist, „eine siegreiche Reichstagswahl macht weit größeren Eindruck“! Und endlich „eine wirkliche Massendemonstration“, die einer Sache gelten soll, „die nicht sofortige Abwehr erheischt, sondern bloßen Protest gegen ein Unrecht bekunden soll, das schon mehr als ein halbes Jahrhundert besteht“, ein solcher Demonstrationsstreik sei in Deutschland „ohne einen gewaltigen Anlaß“ kaum möglich.[2] Genosse Kautsky hat bloß nicht bemerkt, daß er mit dieser Argumentation im Vorbeigehen die schönste theoretische Begründung für – die Abschaffung der Maifeier geliefert hat.

Mit vollem Rechte verweist Genosse Kautsky darauf, daß er „schon vor der russischen Revolution“, in seinem Artikel „Allerhand Revolutionäres“, eine genaue Beschreibung der Wirkungen eines politischen Massenstreiks gegeben hatte. Doch kommt es, wie mir scheint, nicht bloß darauf an, revolutionäre Kämpfe und deren äußeren Verlauf in der theoretischen Abstraktion, sozusagen im Nirgendwo zu schildern, ihr allgemeines Schema zu entwerfen, sondern ebensosehr darauf, in der Praxis jeweilig diejenigen Losungen zu geben, die das Maximum an revolutionärer Energie des Proletariats auslösen, die Situation am meisten und am raschesten vorwärtstreiben können. Freilich hat Genosse Kautsky in seinen zahlreichen Artikeln, in seinen Broschüren das Bild der revolutionären Kämpfe der Zukunft mit zwingender Klarheit gegeben, bei der Beschreibung des Massenstreiks zum Beispiel schon 1904 geschildert, wie „jedes Herrenhaus, jede Scheune, jede Fabrik, jede Telegraphenleitung, jede Eisenbahnstrecke militärisch bewacht werden“, wie die Soldaten überall gegen die Menge hingeschickt werden und wie es doch nirgends zur Schlacht kommt, „denn wo sie hinkommen, zerstiebt die Menge, um sich überall zu sammeln, wo sie noch nicht hinkamen oder eben waren“, wie zuerst „Gas- und Elektrizitätswerke aufhören zu funktionieren, Straßenbahnen zu verkehren, schließlich werden selbst Post und Eisenbahn vom Streikfieber er-

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[1] K. Kautsky: Eine neue Strategie. In: Die Neue Zeit, 28. Jg. 1909/10, Zweiter Band, S. 419.

[2] Siehe ebenda, S. 370.