Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 354

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ein elementarer Streik der Bergarbeiter, der das Signal zur Erhebung gab. Dem Bergarbeiterstreik folgten fast in allen Städten und Branchen andere Streiks, in denen Lohnforderungen im Vordergrund standen. Aus diesen rein gewerkschaftlichen Kämpfen war in Belgien die Massenbewegung für das allgemeine Wahlrecht geboren. Den Lohnforderungen wurde bald überall die Forderung des allgemeinen Wahlrechts zugesellt, und unter Benutzung der großen Erregung des wirtschaftlichen Kampfes konnte die junge belgische Sozialdemokratie am 15. August 1886 ihre erste Massendemonstration für das allgemeine Wahlrecht in Brüssel veranstalten. Dasselbe wiederholte sich auch später. Der große politische Massenstreik, des Jahres 1891, der die Wahlrechtsvorlage der Regierung erzwungen hatte, ist im Zusammenhang mit dem Kampfe um den Achtstundentag, nämlich unter dem unmittelbaren Anstoß der Maifeier, entstanden und war das Produkt einer Reihe gewerkschaftlicher Aktionen. Es war wieder ein großer Lohnkampf der Bergarbeiter, dem Streiks in den Eisen- und Stahlwerken, sodann Streiks der Tischler, Zimmerer, Hafenarbeiter und anderer folgten. Aus diesen Branchenstreiks bildete sich unter der kühnen und festen Leitung der damaligen belgischen Parteiführer der erste Wahlrechtsmassenstreik, der auch den ersten Sieg errungen hat. Nachdem dieser politische Massenstreik angesichts der Konzession der Regierung beendet war, setzten die Bergarbeiter in Charleroi ihren Streik noch fort, um eine Verkürzung der Arbeitszeit und Lohnerhöhung zu erringen. Das ganze Jahr 1892 hindurch dauerte in der belgischen Industrie eine latente Krise, die eine große Erregung unter der Arbeiterschaft, mehrere Streiks zur Abwehr von Lohnreduktionen und Ende des Jahres eine umfangreiche Arbeitslosigkeit erzeugte. Am 8. November 1892, dem Tage der Kammereröffnung, organisierte die Partei in Brüssel in sämtlichen Fabriken einen Demonstrationsstreik. Im Dezember aber desselben Jahres nahm sich die belgische Sozialdemokratie der Sache der Arbeitslosen an und veranstaltete einige grandiose Demonstrationen der Arbeitslosen. So wurde in beständiger Wechselwirkung der Demonstrations- und der „Zwangsstreiks“, der wirtschaftlichen und der politischen Aktion der folgende große Wahlrechtsmassenstreik und der entscheidende Kampf im Jahre 1893[1] vorbereitet. Wenn Genosse Kautsky jetzt seltsamerweise auch diesen Sieg zu verkleinern sucht, indem er darauf hinweist, daß ja „Belgien bis heute noch nicht das gleiche Wahlrecht“[2] besitzt, so wäre diese allgemein bekannte Tatsache nur gegen den ein Argument, der den politischen Massenstreik

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[1] Im April 1893 war es in Belgien zum ersten Mal in der Geschichte der internationalen Arbeiterbewegung zu einem politischen Generalstreik für das allgemeine Wahlrecht gekommen, an dem sich etwa 250 000 Arbeiter beteiligten. Als Ergebnis dieses Streiks mußte das belgische Wahlrecht wesentlich erweitert werden.

[2] K. Kautsky: Was nun? In: Die Neue Zeit, 28. Jg. 1909/10, Zweiter Band, S. 37.