Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 303

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bildet, sie ist endlich sozusagen der persönliche geschworene Feind der Arbeiterklasse und der Sozialdemokratie. Die Losung der Republik ist also in Deutschland heute unendlich mehr als der Ausdruck eines schönen Traumes vom demokratischen „Volksstaat“ oder eines in den Wolken schwebenden politischen Doktrinarismus, sie ist ein praktischer Kriegsruf gegen Militarismus, Marinismus, Kolonialpolitik, Weltpolitik, Junkerherrschaft, Verpreußung Deutschlands, sie ist nur eine Konsequenz und drastische Zusammenfassung unseres täglichen Kampfes gegen alle diese Teilerscheinungen der herrschenden Reaktion. Insbesondere aber weisen nach derselben Richtung gerade die Vorgänge der jüngsten Zeit: Es sind dies die absolutistischen Staatsstreichdrohungen des Junkertums im Reichstag[1] und die frechen Attacken des Reichskanzlers gegen das Reichstagswahlrecht im preußischen Landtag[2] sowie die Einlösung des „königlichen Wortes“ in Fragen des preußischen Wahlrechtes durch die Bethmannsche Reformvorlage.

Die Forderungen der politischen Demokratie, der Gleichberechtigung, stehen heute naturgemäß im Vordergrund unseres Kampfes und wecken ein lautes Echo in den Herzen von Millionen. Die besten demokratischen Reformen sind aber nur kleine Etappen auf dem großen Marsch des Proletariats zur Eroberung der politischen Macht, zur Verwirklichung des Sozialismus. Für die sozialistischen Lehren muß denn auch jetzt mit verdoppelter Kraft geworben werden. Die gewaltigen Scharen der Unzufriedenen, der Ausgebeuteten und Geknechteten, die jetzt in unsere Versammlungen, zu unseren Demonstrationen eilen, sollen aus unserem Munde nicht bloß Worte der geißelnden Kritik gegen die in Preußen-Deutschland herrschende Reaktion, sondern auch Worte des sozialistischen Evangeliums, Grundsätze einer neuen, sozialen Welt erfahren. Aus Kämpfern gegen Bethmann Hollweg und den Schwarz-Blauen Block[3] sollen überzeugte Kämpfer für die sozialistische Gesellschaftsordnung geworben werden.

Der weitere Verlauf, der Sieg oder die Niederlage, der unmittelbare Erfolg der gegenwärtigen Kampagne können im voraus von niemandem berechnet und bestimmt werden. Doch mögen die Dinge eine Wendung

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[1] Am 29. Januar 1910 hatte in der Reidtstagsdebatte über den Militäretat der Konservative Elard von Oldenburg-Januschau eine direkte Aufforderung zum Verfassungsbruch an den Kaiser gerichtet. Gegen dieses provokatorische Auftreten kam es in zahlreichen Städten Deutschlands zu Protestversammlungen.

[2] Am 10. Februar 1910 hatte Theobald von Bethmann Hollweg im preußischen Abgeordnetenhaus in scharfen Angriffen die Wahlrechtsreform als eine Frage von untergeordneter Bedeutung bezeichnet, die von der Sozialdemokratie künstlich aufgebauscht worden sei. Die daraufhin einsetzenden Massendemonstrationen und Aktionen, die das ganze Jahr über andauerten, kennzeichneten das Heranreifen einer politischen Krise in Deutschland.

[3] Während der Debatte über die Reichsfinanzreform im Sommer 1909 zerfiel der Bülow-Block und wurde durch den sogenannten Schnapsblock oder Schwarz-Blauen Block aus Konservativen und Zentrum ersetzt.