Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 287

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-2/seite/287

Noch war kein Jahrzehnt der Parteientwicklung unter den neuen Bedingungen verflossen, als in der Sozialdemokratie eine neue innere Krise begann, diesmal eine Krise des Wachstums, ein unvermeidliches Produkt der außerordentlichen Ausbreitung und Erstarkung der Bewegung nach dem Fall des Sozialistengesetzes. Dies Verzweifeln an der Realisierbarkeit des sozialistischen Endziels, die Skepsis gegenüber der wissenschaftlichen Theorie der Bewegung, das Bestreben, sich auf dem Boden der heutigen Gesellschaft mehr oder minder häuslich einzurichten, verdichteten sich wieder zu einer ausgeprägten Strömung innerhalb der Partei. Und nun stand bald wieder Bebel an der Spitze, um die revolutionäre Taktik, um das sozialistische Prinzip des Klassenkampfes gegen jede Kleingläubigkeit zu verteidigen. Der Dresdener Parteitag[1] mit der Bebelschen Losung „Es bleibt bei der Expropriation!“, der Amsterdamer Internationale Kongreß[2], wo Bebel die entschiedene Absage der deutschen Sozialdemokratie an den Opportunismus zur Richtschnur der aufgeklärten Proletarier aller Länder gemacht, endlich der Parteitag in Jena, wo die deutsche Sozialdemokratie unter Bebels Führung im Anschluß an die Erfahrungen der russischen Revolution eine neue Waffe des Klassenkampfes, den Massenstreik, ihrem Arsenal einverleibt hat[3]: das sind die bisherigen Höhe- und Glanzpunkte zugleich im Lebenswerk Bebels wie in der Wirkung der deutschen Sozialdemokratie als der Vorhut der proletarischen Internationale.

Bei der engen inneren Verknüpfung des Bebelschen Wirkens mit der deutschen Parteigeschichte hieße es für die Sozialdemokratie beinahe sich selbst preisen, wollte sie an Bebels siebzigstem Geburtstag[4] Lobeshymnen zu seinen Ehren anstimmen. Zu anderem muß das deutsche wie das internationale Proletariat diesen denkwürdigen Tag verwenden: dazu, um sich noch klarer und eindringlicher die Bedingungen der eigenen Macht, des eigenen Wachstums, des eigenen Sieges zum Bewußtsein zu bringen. Das Leben Bebels ist für das kämpfende Proletariat wie ein offenes Buch, in dem auf jeder Seite zu lesen ist: Nur durch unermüdlichen, rastlosen, keine Opfer, keine Mühe scheuenden Kampf um das geringste, was sich an greifbaren praktischen Erfolgen erzielen läßt, in politischem und wirtschaftlichem Ringen, durch parlamentarische Aktion und durch Massendruck in jeder Form, zugleich aber nur durch stete und unbeirrte Orien-

Nächste Seite »



[1] Der Parteitag der deutschen Sozialdemokratie in Dresden fand vom 13. bis 20. September 1903 statt.

[2] Der Internationale Sozialistenkongreß in Amsterdam fand vom 14. bis 20. August 1904 statt.

[3] Die auf dem Parteitag der deutschen Sozialdemokratie vom 17. bis 23. September 1905 in Jena beschlossene Resolution bezeichnete die umfassendste Anwendung der Massenarbeitseinstellung als eines der wirksamsten Kampfmittel der Arbeiterklasse, beschränkte allerdings die Anwendung des politischen Massenstreiks im wesentlichen auf die Verteidigung des Reichstagswahlrechts und des Koalitionsrechts.

[4] August Bebel beging seinen 70. Geburtstag am 22. Februar 1910.