Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 260

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Richtung die größte Gefahr für die Partei erblickten, der Schwarzseherei und des Pessimismus beschuldigt. Nun, ich glaube, noch in keiner Parteidebatte ist mit solcher Schärfe, Klarheit und Deutlichkeit zum Ausdruck gekommen, wohin die Partei steuert, wenn sie dieser Richtung nachgeben würde, wie in dieser Debatte. („Sehr richtig!“) Hier haben wir nicht mehr Diskussionen über abstrakte theoretische Fragen, hier handelt es sich um eine eminent praktische Frage, um die Frage des politischen Handelns der Partei, um eine Frage, deren Bedeutung auch von den breitesten Massen begriffen wird. Und was stellt sich dabei heraus? Daß wir, wenn es in der Richtung weitergeht, die jetzt in Süddeutschland vertreten ist, schließlich vor die Alternative gestellt werden: bürgerliche Reformpartei oder Anarchismus? Worauf lief die ganze Beweisführung von Timm, Frank, Hildenbrand[1] hinaus? Das Leitmotiv ihrer Reden ebenso wie der Grundgedanke aller Preßäußerungen ihrer Gesinnungsgenossen David, Kolb u. a. lief darauf hinaus : Entweder erkennen wir, daß wir auf dem Boden des heutigen Staates wichtige Errungenschaften positiver Natur erzielen können, und dann sei es notwendig, unsere unnütze grundsätzliche Feindschaft gegen den bestehenden Staat, deren unabweisbare Konsequenz die Ablehnung des Budgets des Klassenstaates ist, aufzugeben, oder wir sollen offen erklären: Auf dem Boden des bestehenden Staates ist keine namhafte Errungenschaft möglich. Dann aber sollen wir die Konsequenzen ziehen: Heraus aus den Parlamenten! dann hätte unser Kampf um die Erringung der politischen Rechte gar keinen Sinn. Das wurde uns gestern gesagt. Daß es eine Politik geben kann, die ebenso weit entfernt ist von bürgerlicher Reformpolitik wie von anarchistischen Hirngespinsten, daß es eine sozialistische Klassenpolitik geben kann, die mit allem Nachdruck um positive Errungenschaften kämpft, zugleich aber mit ebenso kräftigem Nachdruck die prinzipielle Feindschaft gegen den bestehenden Staat auf Schritt und Tritt – und zwar auch durch die Budgetabstimmung – zum Ausdruck bringt, dafür scheint den Genossen in Süddeutschland, wenigstens in den Parlamenten, der Sinn abhanden gekommen zu sein. Sie haben den besten Beweis selbst durch ihre Verteidigungsreden geliefert, auf eine wie schiefe Bahn man sich begibt, wenn man sich auf ihren Standpunkt stellt. Dann, worauf lief hinaus die Verteidigung von Timm? Auf eine unbeabsichtigte, aber um so wirksamere Glorifizierung der Zen‑

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[1] Die süddeutschen Sozialdemokraten Johannes Timm, Ludwig Frank und Karl Hildenbrand hatten versucht, die Bewilligung des Landesbudgets durch die sozialdemokratischen Fraktionen im badischen und im bayrischen Landtag am 12. und 13. August 1908 sowie im württembergischen Landtag am 27. Juli 1907 zu rechtfertigen.