Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 258

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seits die Maifeier immer mehr ausgedehnt wird, andererseits aber alle Opfer tatsächlich unterstützt werden, kann gar nicht gefunden werden. („Sehr richtig!“) Darin liegt eben die Schlinge, in der die Maifeier erdrosselt wird, wenn wir uns weiter darauf einlassen, alle möglichen Kombinationen ausfindig zu machen, um die Unterstützung so zu regeln, daß alle Opfer gedeckt werden und doch die Maifeier ausgebaut wird. Die bisherige Praxis der Maifeier nicht bloß in Deutschland, sondern in allen Ländern hat gezeigt, daß es nur einen einzigen Weg gibt, um den Opfern der Maifeier vorzubeugen. Das ist nicht irgendeine Regelung der Unterstützung, sondern die möglichste Ausdehnung der Maifeier. Nur dann, wenn die Zahl der Feiernden eine so gewaltige wird, daß eine Maßregelung unmöglich wird, nur dann, wenn man die wirkliche Macht der klassenbewußten organisierten Kämpfer der Arbeiterschaft mit ihrer ganzen Wucht dem Untemehmertum entgegenstellt, erst dann wagt das Unternehmertum nicht, Maßregelungen gegen uns vorzunehmen. (Widerspruch und Zustimmung.) Wir haben Erfahrungen, die das auf Schritt und Tritt bestätigen. (Zuruf: „Wo denn?“) Ich bitte Sie, einen Blick zu werfen nach einem Lande, wo die Arbeiter genau aus demselben Teig gemacht sind wie die deutschen Arbeiter, nach Russisch-Polen[1]. (Widerspruch.) Wir haben dort in diesem Jahre wiederum in Warschau eine Maifeier gehabt, die einzig in der Welt dasteht. Sämtliche Fabrikarbeiter haben gefeiert. Es geschah das nicht etwa auf dem Höhepunkt der Revolution, wo alle Geister hochfliegen. Wir haben seit längerer Zeit bereits in Rußland und Russisch-Polen einen Niedergang, einen gewissen Stillstand der Revolution, der revolutionären Bewegung zu verzeichnen. Wir haben eine furchtbare wirtschaftliche Depression, eine kolossale geistige Depression, und trotz alledem hat man dort massenhaft den 1. Mai gefeiert. Und gerade deswegen sind in diesem Jahre ebenso wie früher die Maßregelungen für die Maifeier minimal gewesen. Genau dieselben Erfahrungen hat man in Deutschland gemacht. Ich glaube, es war eine Zahlstelle der Holzarbeiter in Berlin, die in diesem Jahre genau dasselbe festgestellt hat in einer Sitzung nach der Maifeier, daß nämlich nur durch die möglichste Ausdehnung der Zahl der Feiernden ein Riegel dagegen vorgeschoben wird, daß die Maßregelungen die Masse der Feiernden treffen. Deshalb würden wir einen ganz falschen Weg einschlagen, wenn wir uns tatsächlich mit der uns hingeworfenen Frage des langen und breiten beschäftigen wollten, wie die Feiernden unterstützt werden sollen. Fischer hat selbst unwillkürlich gezeigt, wie ausweglos eigentlich dieser Weg ist, indem er sagte: Ihr seid

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[1] Russisch-Polen, Kongreßpolen, Königreich Polen: Im Ergebnis der drei Teilungen Polens von 1772, 1793 und 1795 waren die Westgebiete an Preußen und Galizien samt Krakau an Österreich gegangen, das sogenannte „Kongreßpolen“ bzw. „Königreich Polen«“ wurde auf dem Wiener Kongreß von 1815 in Personalunion mit Rußland verbunden. Nach dem niedergeschlagenen polnischen Aufstand von 1863 behandelten die zaristischen Behörden jedoch die annektierten polnischen Gebiete nicht mehr weiter als »Königreich«, sondern als bloße Provinzen, die sie administrativ aufspalteten. Die Bezeichnung „Polen“ wurde verboten und nur noch vom „Weichselland“ gesprochen. Zugleich wurde eine Politik der „Russifizierung“ verfolgt. – Im Ausland galt »Kongreßpolen« weiterhin als Synonym für den russisch besetzten Teil Polens. Rosa Luxemburg und Leo Jogiches hingegen zogen den Begriff vom 1867 aufgelösten »Königreich Polen« vor, der einerseits die Gleichberechtigung Polens gegenüber Rußland betonte, andererseits die Unabhängigkeit von den Signatarmächten des Wiener Kongresses – „Kongreßpolen“ – signalisierte. Dementsprechend nannten sie ihre 1893 gegründete Partei „Sozialdemokratie des Königreiches Polen“ (SDKP). 1900 wurde daraus die „Sozialdemokratie des Königreiches Polen und Litauens“ (SDKPiL).