lich zu machen, so drängt sich eine Betrachtung auf, die beweist, daß diese Kunst nicht eine universelle sein könnte: nämlich der Umstand, daß sie für das Volk völlig unverständlich ist. Früher schrieben die Dichter lateinisch, doch jetzt sind die künstlerischen Erzeugnisse unsrer Dichter ebenso unverständlich für den gemeinen Menschen als wären sie in Sanskrit geschrieben.
Man wird nun antworten, die Schuld liege an dem Mangel von Kultur und Entwicklung des gemeinen Menschen, und unsre Kunst werde von allen dann verstanden werden, wenn sie eine genügende Erziehung genossen haben. Das ist wieder eine unsinnige Antwort, denn wir sehen, daß die Kunst der höheren Klassen zu jeder Zeit nur ein einfacher Zeitvertreib für diese Klassen selbst gewesen ist, ohne daß die übrige Menschheit etwas davon begriffen hat. Die unteren Klassen mögen sich noch so sehr zivilisieren, die Kunst, die von Anfang an nicht für sie geschaffen war, wird ihnen stets unzugänglich bleiben … Für den denkenden und aufrichtigen Menschen ist es eine unbestreitbare Tatsache, daß die Kunst der höheren Klassen nie die Kunst der ganzen Nation werden kann.“
Der das schrieb, ist in jedem Zoll mehr Sozialist und auch historischer Materialist als jene Parteigenossen, die, in der neuerdings aufgekommenen Kunstfexerei machend, mit gedankenloser Geschäftigkeit die sozialdemokratische Arbeiterschaft zum Verständnis für die dekadente Kleckserei eines Slevogt oder eines Hodler „erziehen“ wollen.
So muß Tolstoi in seiner Stärke wie in seinen Schwächen, im tiefen und scharfen Blick seiner Kritik, im kühnen Radikalismus seiner Perspektiven wie im idealistischen Glauben an die Macht des subjektiven Bewußtseins in die Reihe der großen Utopisten des Sozialismus gestellt werden. Es ist nicht seine Schuld, sondern sein historisches Pech, daß er mit seinem langen Leben von der Schwelle des 19. Jahrhunderts, an der die Saint-Simon, Fourier und Owen als Vorläufer des modernen Proletariats standen, bis an die Schwelle des 20. reicht, wo er als Einzelgänger dem jungen Riesen verständnislos gegenübersteht. Aber die reife revolutionäre Arbeiterklasse kann ihrerseits dem großen Künstler und dem kühnen Revolutionär und Sozialisten trotz seiner selbst mit verständnisinnigem Lächeln heute die ehrliche Hand drücken, die die guten Worte geschrieben hat:
„Jeder kommt auf seinem Wege zur Wahrheit, eins aber muß ich sagen: Das, was ich schreibe, sind nicht nur Worte, sondern ich lebe danach, darin ist mein Glück, und damit werde ich sterben.“
Leipziger Volkszeitung, Nr. 209 vom 9. September 1908.