Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 251

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einer Zähigkeit, einer gewissen Dürftigkeit der Mittel und einer naiv-schlauen Überredungskunst, die lebhaft an die ewigen Wendungen Fouriers von dem Eigennutz der Menschen erinnern, den er in verschiedensten Formen für seine sozialen Pläne zu interessieren suchte.

Das soziale Ideal Tolstois ist also nichts anderes als Sozialismus. Will man aber den sozialen Kern und die Tiefe seiner Ideen in schlagendster Weise erkennen, so muß man sich nicht sowohl an seine Traktate über ökonomische und politische Fragen, sondern an seine Schriften über die Kunst wenden, die übrigens auch in Rußland zu den am wenigsten bekannten gehören.[1] Der Gedankengang, den Tolstoi hier in glänzender Form entwickelt, ist folgender: Die Kunst ist – entgegen allen ästhetischen und philosophischen Schulmeinungen – nicht ein Luxusmittel, in schönen Seelen die Gefühle der Schönheit, der Freude oder dergleichen auszulösen, sondern eine wichtige geschichtliche Form des gesellschaftlichen Verkehrs der Menschen untereinander wie die Sprache. Nachdem er durch eine köstliche Abschlachtung aller Kunstdefinitionen von Winckelmann und Kant bis Taine diesen echt materialistisch-historischen Maßstab gewonnen hat, tritt Tolstoi mit demselben in der Hand an die gegenwärtige Kunst heran und findet, daß der Maßstab in keinem Gebiet und in keinem Stück auf die Wirklichkeit paßt; die gesamte bestehende Kunst ist – mit einigen ganz geringen Ausnahmen – der großen Masse der Gesellschaft, nämlich dem arbeitenden Volke, unverständlich. Statt daraus mit der landläufigen Meinung auf die geistige Roheit der großen Masse und die Notwendigkeit ihrer „Hebung“ zum Verständnis der heutigen Kunst zu schließen, zieht Tolstoi den umgekehrten Schluß: Er erklärt die gesamte bestehende Kunst für „falsche Kunst“. Und die Frage, wie ist es denn gekommen, daß wir seit Jahrhunderten eine „falsche“ statt einer „wahren“, d. h. volkstümlichen Kunst haben, führt ihn zu einem weiteren kühnen Ausblick: eine wahre Kunst hätte es in den uralten Zeiten gegeben, wo das gesamte Volk eine gemeinsame Weltanschauung – Tolstoi nennt sie „Religion“ – hatte; aus dieser seien solche Werke wie Homers Epos oder die Evangelien entstanden. Seit jedoch die Gesellschaft in eine ausgebeutete große Masse und eine kleine herrschende Minderheit zerklüftet sei, diene die Kunst nur dazu, die Gefühle der reichen und müßigen Minderheit auszudrücken, da dieser aber heute jede Weltanschauung überhaupt abhanden gekommen sei, so hätten wir den Verfall und die Ausartung, die die moderne Kunst charakterisieren. Zu einer „wahren Kunst“

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[1] „Was ist Kunst?“ und „Ober die Kunst“ sowie andere Abhandlungen Tolstois sind deutsch – in einer sehr liederlichen Ausgabe – bei Hugo Steinitz, Berlin, erschienen. [Fußnote im Original]