Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 213

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nationalen Entwicklung in ihrer Gesamtheit in Betracht zieht, wenn es den Reifegrad, den die gesamte kapitalistische Gesellschaft erreicht hat, berücksichtigt. Das russische Proletariat muß durch seine Aktionen zeigen, daß zwischen dem Jahre 1848 und dem Jahre 1907 mehr als ein halbes Jahrhundert kapitalistischer Entwicklung vergangen ist und daß wir vom Standpunkt dieser Entwicklung in ihrer Gesamtheit nicht am Anfang des bürgerlichen Klassenstaates stehen, sondern schon eher am Anfang seines Endes. Es muß zeigen, daß die russische Revolution nicht sosehr der letzte Akt in der Reihe der bürgerlichen Revolutionen des 19. Jahrhunderts ist als vielmehr der Vorbote der neuen Serie der kommenden proletarischen Revolutionen, in denen das bewußte Proletariat und seine Avantgarde, die Sozialdemokratie, historisch zur Rolle des Führers berufen ist. (Beifall.) Das deutsche Proletariat erwartet von Ihnen nicht nur den Sieg über den Absolutismus, nicht nur einen neuen Stützpunkt für die Befreiungsbewegung in Europa, sondern auch eine Erweiterung und Vertiefung der Perspektiven der proletarischen Taktik: Es möchte bei Ihnen lernen, wie man in Perioden des offenen revolutionären Kampfes auftritt.

Aber um ihre Rolle erfolgreich auszuführen, ist für die russische Sozialdemokratie eine wichtige Bedingung unerläßlich, und diese Bedingung ist die Einheit der Partei. Keine äußere, rein mechanische Einheit, sondern eine innere Geschlossenheit und eine innere Stärke, die natürlich das Resultat einer klaren, richtigen Taktik sein muß, die der inneren Einheit des Klassenkampfes des Proletariats entspricht. Für wie dringend notwendig die deutsche Sozialdemokratie die Einheit der russischen Partei hält, können Sie aus den eigenen Worten des Parteivorstandes der deutschen Partei erfahren, und zwar gerade aus dem Brief, den ich beauftragt bin, Ihnen zu überreichen. Nach den von mir zu Beginn meiner Rede übermittelten Grüßen, die der Parteivorstand allen Vertretern der russischen Sozialdemokratie sendet, verkündet dieser Brief:

„Die deutsche Sozialdemokratie verfolgte begeistert den Kampf der russischen Brüder gegen den Absolutismus sowie gegen die Plutokratie, die sich mit diesem in die Macht teilen will.

Der trotz des verstümmelten Wahlsystems errungene Sieg bei den Dumawahlen erfüllte uns mit Freude. Er hat die spontane, siegreiche Kraft des Sozialismus nachgewiesen, die durch nichts zu bezwingen ist.

Wie überall versucht auch in Rußland die Bourgeoisie, mit der Regierung Frieden zu schließen. Sie will die siegreiche Vorwärtsbewegung des russischen Proletariats aufhalten. Sie ist bestrebt, auch in Rußland dem Volk die Früchte seines beharrlichen Kampfes zu rauben. Darum fällt der

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