Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 210

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bescheidenen Erfahrung in der Wahlkampagne kann ich mitteilen, daß auf allen Wahlversammlungen – und ich hatte in Versammlungen mit 2000 bis 3000 Menschen aufzutreten – aus der Mitte der Arbeiter selbst Stimmen ertönten: „Sprechen Sie über die russische Revolution!“ Und darin zeigt sich nicht nur eine natürliche Sympathie, die der instinktiven Klassensolidarität mit den kämpfenden Brüdern entspringt, sondern auch das Bewußtsein, daß die Interessen der russischen Revolution seine eigene Sache sind. Das Wichtigste, was das deutsche Proletariat von dem russischen erwartet, ist die Erweiterung und Bereicherung der proletarischen Taktik, die Anwendung der Prinzipien des Klassenkampfes unter völlig neuen historischen Verhältnissen. In der Tat. Jene sozialdemokratische Taktik, die die Arbeiterklasse in Deutschland gegenwärtig anwendet und der wir bisher unsere Siege verdanken, ist hauptsächlich dem parlamentarischen Kampf angepaßt, ist berechnet auf den Rahmen des bürgerlichen Parlamentarismus. Die Sozialdemokratie Rußlands ist die erste, der die schwere, aber ehrenvolle Aufgabe zuteil wurde, die Grundlagen der Lehre von Marx nicht in der Periode eines richtigen, ruhigen, parlamentarischen Ablaufs des staatlichen Lebens, sondern in einer stürmischen revolutionären Periode anzuwenden. Der einzige Fall, in dem der wissenschaftliche Sozialismus in der praktischen Politik in einer Revolutionsperiode anzuwenden war, war die Tätigkeit von Marx in der Revolution 1848. Der Verlauf der Revolution von 1848 selbst kann jedoch nicht als Beispiel für die gegenwärtige Revolution in Rußland dienen. Aus ihr kann man wohl nur eins lernen, nämlich wie man in der Revolution nicht auftreten soll. Die Grundzüge dieser Revolution waren folgende: Das Proletariat schlägt sich mit dem gewohnten Heroismus, versteht aber nicht, seine Siege auszunutzen; die Bourgeoisie verdrängt das Proletariat, um sich die Früchte seines Kampfes anzueignen; schließlich läßt der Absolutismus die Bourgeoisie fallen, um sowohl das Proletariat als auch die Revolution zu zermalmen. Die Klassenabsonderung des Proletariats befand sich damals noch im Keimzustand. Wohl gab es damals schon das Kommunistische Manifest, diese große Charte des Klassenkampfes. Wohl nahm Karl Marx schon an dieser Revolution als ein praktischer Kämpfer teil. Aber gerade infolge der besonderen historischen Verhältnisse konnte er nicht die Rolle eines sozialistischen Politikers, sondern mußte die Rolle eines extremen bürgerlichen Demokraten spielen, und die „Neue Rheinische Zeitung“ war nicht sosehr ein Organ des Klassenkampfes als vielmehr der äußerste linke Posten des revolutionären Lagers. Wohl existierte damals in Deutschland jene bürgerliche Demokratie eigentlich gar

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