Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 19

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schichten wirken. Deshalb bleibt der allgemeine Streik eine unentbehrliche und die wichtigste Waffe der revolutionären Arbeiterklasse, für die die Äußerung und die Verbreitung des Bewußtseins Inhalt und Grundlage des Klassenkampfes sind. In diesem Sinne ist kein Streik verfehlt, jeder bringt riesige Ergebnisse. Aber in der gegenwärtigen Phase, da der Zarismus den Willen des Proletariats weder außer acht lassen noch betrügen kann und ihn nur mit einfacher Gewalt brechen will, jetzt tritt als Ergänzung des allgemeinen Streiks notwendigerweise der bewaffnete Aufstand und der Straßenkampf auf den Kampfplatz.

Gerade diese Lage beherrschte den letzten allgemeinen Streik und verlieh ihm gewisse Züge des Schwankens und der äußeren Unsicherheit. Wenn die Massen dieses Mal bis zu einem gewissen Grad mit dem Streik zögerten, wenn die sozialistischen Meetings keine solche Begeisterung und Erregung hervorriefen wie in den vorherigen Phasen des Kampfes, so ist das der unbewußte Ausdruck des unfehlbaren Instinkts der Masse des Proletariats, die spürte, daß der allgemeine Streik nicht mehr genügt, daß er nur noch die Einleitung und das Zeichen zu einer Reihe offener Straßenkämpfe mit der Regierung der Gewalt und der Morde sein kann. Wenn der allgemeine Streik daher dieses Mal „nicht gelungen ist“, so nicht deshalb, weil die Massen des Streiks und des Kampfes überdrüssig sind, sondern umgekehrt deshalb, weil sie die Notwendigkeit des weiteren entschiedeneren Kampfes fühlen, deshalb, weil ihrem Gefühl und Instinkt nach der allgemeine Streik allein nicht mehr genügt. Mit anderen Worten, der Ablauf des letzten Streiks ist der Beweis, daß die revolutionäre Sache nicht zurückgeht und nicht sich abschwächt, sondern im Gegenteil, daß sie vorwärtsgeht und sich verstärkt; daß nicht die sozialistischen Anführer den Einfluß auf die Massen zu verlieren beginnen, sondern daß die Massen selbst, wie gewöhnlich an Wendepunkten des Kampfes, die Anführer spontan zu entschiedeneren Losungen drängen; daß wir in eine neue Phase der Revolution eingetreten sind, die uns vor neue, weit mächtigere Kämpfe als bisher stellt. Und so wie vorher schon einzelne Abteilungen des Proletariats der ganzen Armee im Kampf vorangegangen sind, mit ihren teilweise elementaren Explosionen die Wege und Formen gezeigt haben, die der Kampf des ganzen Proletariats bewußt übernehmen muß, so geben auch diesmal Moskau mit seiner Straßenrevolution, nichtsdestoweniger der Ural, Bachmut, Rostow am Don, Livland schon das Zeichen und zeigen die Wege zu einer neuen Phase bewaffneter Kämpfe. Dieses „Mißlingen“ des letzten allgemeinen Streiks, über das sich die zaristischen Häscher und die reaktionäre Bourgeoisie in ihrer Verblendung freuen, ist

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