Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 15

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Diese Ausflucht des Absolutismus schuf vorübergehend eine ernsthafte Gefahr für die Sache der Freiheit. Nicht nur unsere reaktionäre Bourgeoisie, sondern auch der liberale russische Adel waren sofort bereit, die blutige Rechte des Zarentums anzunehmen, um die Arbeiterklasse gemeinsam zu betrügen. Wenn das Proletariat es zugelassen hätte, daß die Komödie der Wahl zur Bulyginschen „Duma“, die aus einer Handvoll bürgerlicher und adliger Knechte des Zarentums bestehen und jedweder gesetzgeberischen Macht entblößt sein sollte, durchgeführt und mit der Komödie der Gesetzgebung der „Duma“ begonnen worden wäre, dann wäre die Revolution vielleicht für einen langen Zeitraum verstummt und der Zweck des zaristischen Betruges erreicht worden. Die ganze große Masse der wenig oder überhaupt nicht aufgeklärten Stadt- und Landbevölkerung, die die wirkliche politische Freiheit von dem maskierten Despotismus nicht unterscheiden kann, hätte die betrügerische Komödie des Absolutismus für bare Münze genommen, für einen echten Sieg des Volkswillens gehalten und wäre für eine gewisse Zeit wieder eingeschläfert worden und in Passivität versunken. Der allgemeine Streik von Ende Oktober machte den Absichten der zaristischen Regierung ein Ende, zerstörte das Bulyginsche Projekt, die Wahlen, die „Duma“ und die ganze schändliche Komödie des Zarentums. Mit der allgemeinen Arbeitseinstellung erklärte der bewußte Teil der Arbeiterklasse dieses Mal laut, daß keinerlei Ausflüchte des Absolutismus es vermögen, ihn zu betrügen, daß er nicht die Verhüllung, sondern den vollständigen Sturz der Regierung fordert. Mit diesem Streik öffnete die bewußte Schicht des Proletariats breitesten Kreisen des Volkes die Augen für die diebischen Absichten des Zarentums, warnte sie vor der Gefahr und rief sie zum unverzüglichen Kampf auf. Die Folge des Streiks trat sofort ein: Das Zarenmanifest vom 30. Oktober[1], das diesmal schon die echte politische Freiheit versprach, begrub die Bulyginschen Projekte und eröffnete eine neue Phase der Revolution. Zwischen dem allgemeinen Oktoberstreik und dem Januarstreik besteht in jeder Hinsicht bereits ein gewaltiger Unterschied. Der Ausbruch des Januarstreiks erfolgte vor allem spontan. Die Arbeiter ließen, geleitet vom gesunden Klasseninstinkt, auf die Kunde vorn Petersburger Gemetzel überall die Arbeit liegen. Der Oktoberstreik dagegen war eine ganz bewußte politische Aktion des Proletariats, die zu einem ganz bestimmten Ziel strebte: zur Vernichtung des Projekts der Bulyginschen „Duma“. Das

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[1] Die zaristische Regierung sah sich angesichts des politischen Generalstreiks in Rußland gezwungen, konstitutionelle Zugeständnisse zu machen. Im Manifest vom 30. Oktober 1905 wurden bürgerliche Preiheiten gewährt, der Kreis der Wahlberechtigten für die Duma erweitert und der Duma die legislative Gewalt gegeben.