Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 14

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Sibiriens als einer Klasse und die Eröffnung seines gemeinsamen Klassenkampfes gegen das Kapital und das Zarentum.

Dementsprechend waren die Folgen des ersten allgemeinen Streiks unermeßlich. Noch stürzte er nicht den Absolutismus, aber er bewegte und wühlte den ganzen gesellschaftlichen Boden auf, aus dem der Klassenkampf des Proletariats erwächst. Wie der durch eine Überschwemmung im Frühjahr befruchtete Boden ringsum üppiges Wachstum hervorzubringen und reiche Ernte zu tragen beginnt, so entflammte auch das Klassenbewußtsein des Proletariats, das Bewußtsein des ihm angetanen sozialen Unrechts, das sich, plötzlich durch den mächtigen allgemeinen Streik geweckt, in einer unzählbaren Menge von Teil-, Orts- und Berufsstreiks ausdrückte. Das Proletariat des ganzen Landes, geweckt durch die eigene Teilnahme am allgemeinen Klassenkampf, begann seine Fesseln zu schütteln, um die Verbesserung seines täglichen Daseins zu kämpfen, sich seiner Rechtlosigkeit zu erinnern. Das ganze Frühjahr und den Sommer über dauerte die Wirkung jenes ersten allgemeinen Streiks an, der das Zeichen zum unermüdlichen Kampf der Arbeiter gegen die Herrschaft des Kapitals gab, zu einem Kampf in jeder Gegend, in jeder Stadt, in jeder Fabrik, zu einem Kampf, der die ganze Vielfalt und Ungleichartigkeit der örtlichen Forderungen auf ein gemeinsames Ziel konzentrierte: die Losung des Achtstundentages und der politischen Freiheit.

Die Umstände, unter denen der zweite allgemeine Streik ausbrach – gegen Ende Oktober –, waren schon ganz anders. Der Kampf des Proletariats in ganz Rußland und Polen, der auf das Zeichen des Petersburger Gemetzels hin begonnen hatte und fast pausenlos ein halbes Jahr dauerte, zwang den Absolutismus zur ersten Kapitulation. Die zaristische Regierung, die sah, daß sie durch das Blutvergießen allein die Arbeiterrevolution auf keine Weise mehr zu unterdrücken vermochte, unternahm den Versuch, sie durch eine List zu beschwichtigen, das kämpfende Proletariat durch den Schein der politischen Freiheit zu betrügen. Es wurde jenes berühmte Projekt der Bulyginschen „Duma“[1] ausgearbeitet und verkündet, wodurch unter dem Mäntelchen der konstitutionellen Regierung tatsächlich nur die Allmacht der Peitsche gefestigt und, nachdem der schwankende Thron des Zaren mit Hilfe der reaktionären Bourgeoisie und des Adels gestützt worden, unter dem Schein der politischen Freiheit das arbeitende Volk um seine politischen Rechte gebracht werden sollte.

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[1] Am 19. August 1905 hatte die zaristische Regierung ein vom Innenminister A. G. Bulygin verfaßtes Gesetz für die Wahlen zu einer Reichsduma erlassen. Danach war die Duma nur als beratendes Organ vorgesehen, und die Wahlen sollten nach dem Ständeprinzip und nach einem festgelegten Vermögenszensus vollzogen werden.