Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 122

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-2/seite/122

den sie jedoch bereitwillig akzeptierten. Binnen einer Woche herrscht in sämtlichen Fabriken und Werkstätten Petersburgs der Achtstundentag, und der Jubel der Arbeiterschaft kennt keine Grenzen. Bald rüstet jedoch das anfangs verblüffte Unternehmertum zur Abwehr: es wird überall mit der Schließung der Fabriken gedroht. Ein Teil der Arbeiter läßt sich auf Verhandlungen ein und erringt hier den Zehn-, dort den Neunstundentag. Die Elite des Petersburger Proletariats jedoch, die Arbeiter der großen staatlichen Metallwerke, bleiben unerschüttert, und es erfolgt eine Aussperrung, die 45 000 bis 50 000 Mann für einen Monat aufs Pflaster setzt. Durch diesen Abschluß spielt die Achtstundenbewegung in den allgemeinen Massenstreik des Dezember hinein, den die große Aussperrung in hohem Maße unterbunden hat.

Inzwischen folgt aber im Oktober als Antwort auf das Bulyginsche Dumaprojekt[1] der zweite gewaltigste allgemeine Massenstreik im gesamten Zarenreich, zu dem die Eisenbahner die Parole ausgeben. Diese zweite revolutionäre Hauptaktion des Proletariats trägt schon einen wesentlich anderen Charakter als die erste im Januar. Das Element des politischen Bewußtseins spielt schon eine viel größere Rolle. Freilich war auch hier der erste Anlaß zum Ausbruch des Massenstreiks ein untergeordneter und scheinbar zufälliger: der Konflikt der Eisenbahner mit der Verwaltung wegen der Pensionskasse. Allein die darauf erfolgte allgemeine Erhebung des Industrieproletariats wird vom klaren politischen Gedanken getragen. Der Prolog des Januarstreiks war ein Bittgang zum Zaren um politische Freiheit, die Losung des Oktoberstreiks lautete: Fort mit der konstitutionellen Komödie des Zarismus! Und dank dem sofortigen Erfolg des Generalstreiks, dem Zarenmanifest vom 30. Oktober, fließt die Bewegung nicht nach innen zurück, wie im Januar, um erst die Anfänge des ökonomischen Klassenkampfes nachzuholen, sondern ergießt sich nach außen, in eine eifrige Betätigung der frisch eroberten politischen Freiheit. Demonstrationen, Versammlungen, eine junge Presse, öffentliche Diskussionen und blutige Massaker als das Ende vom Liede, darauf neue Massenstreiks und Demonstrationen – das ist das stürmische Bild der November- und Dezembertage. Im November wird auf den Appell der Sozialdemokratie hin in Petersburg der erste demonstrative Massenstreik veranstaltet als Protestkundgebung gegen die Bluttaten und die Verhängung des Belagerungszustandes in Livland und Polen. Die Gärung nach dem kurzen Verfassungstraum und dem grausamen Erwachen führt endlich im Dezember zum Ausbruch des dritten allgemeinen Massen‑

Nächste Seite »



[1] Am 19. August 1905 hatte die zaristische Regierung ein vom Innenminister A. G. Bulygin verfaßtes Gesetz für die Wahlen zu einer Reichsduma erlassen. Danach war die Duma nur als beratendes Organ vorgesehen, und die Wahlen sollten nach dem Ständeprinzip und nach einem festgelegten Vermögenszensus vollzogen werden.