Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 109

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und verwandelte den ganzen Süden des Zarenreichs für einige Wochen in eine bizarre, revolutionäre Arbeiterrepublik. „Brüderliche Umarmungen, Rufe des Entzückens und der Begeisterung, Freiheitslieder, frohes Gelächter, Humor und Freude hörte man in der vieltausendköpfigen Menge, die vom Morgen bis Abend in der Stadt wogte. Die Stimmung war eine gehobene; man konnte beinahe glauben, daß ein neues, besseres Leben auf Erden beginnt. Ein tiefernstes und zugleich idyllisches, rührendes Bild.“ So schrieb damals der Korrespondent im liberalen „Oswoboshdenije“[1] des Herrn Peter v. Struve.

Das Jahr 1904 brachte gleich im Anfang den Krieg und für eine Weile eine Ruhepause in der Massenstreikbewegung mit sich. Zuerst ergoß sich eine trübe Welle polizeilich veranstalteter „patriotischer“ Demonstrationen über das Land. Die „liberale“ bürgerliche Gesellschaft wurde vorerst von dem zarisch-offiziellen Chauvinismus ganz zu Boden geschmettert. Doch nimmt die Sozialdemokratie bald den Kampfplatz wieder in Besitz; den polizeilichen Demonstrationen des patriotischen Lumpenproletariats werden revolutionäre Arbeiterdemonstrationen entgegengestellt. Endlich wecken die schmählichen Niederlagen der zarischen Armee auch die liberale Gesellschaft aus der Betäubung; es beginnt die Ära liberaler und demokratischer Kongresse, Bankette, Reden, Adressen und Manifeste. Der durch die Schmach des Krieges zeitweilig erdrückte Absolutismus läßt in seiner Zerfahrenheit die Herren gewähren, und sie sehen bereits den Himmel voller liberaler Geigen. Für ein halbes Jahr nimmt der bürgerliche Liberalismus die politische Vorderbühne in Besitz, das Proletariat tritt in den Schatten. Allein nach längerer Depression rafft sich der Absolutismus seinerseits wieder auf, die Kamarilla sammelt ihre Kräfte, und durch ein einziges kräftiges Aufstampfen des Kosakenstiefels wird die ganze liberale Aktion im Dezember ins Mauseloch gejagt. Die Bankette, Reden, Kongresse werden kurzerhand als eine „freche Anmaßung“ verboten, und der Liberalismus sieht sich plötzlich am Ende seines Lateins. Aber genau dort, wo dem Liberalismus der Faden ausgegangen ist, beginnt die Aktion des Proletariats. Im Dezember 1904 bricht auf dem Boden der Arbeitslosigkeit der grandiose Generalstreik in Baku aus: Die Arbeiterklasse ist wieder auf dem Kampfplatz. Als das Reden verboten wurde und verstummte, begann wieder das Handeln. In Baku herrschte während einiger Wochen mitten im Generalstreik die

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[1] Die Zeitung „Oswoboshdenije“ erschien als illegales Organ bürgerlich-liberaler Richtung in Stuttgart in den Jahren 1902 bis 1905 unter der Redaktion von P. B. Struve. Um dieses Organ gruppierte sich die russische liberal-monarchistische Bourgeoisie.