Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 104

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ger Generalstreiks beginnen. Sie sind für das Problem des Massenstreiks schon deshalb wichtig, weil sie bereits alle Hauptmomente der späteren Massenstreiks im Keime enthalten.

Zunächst erscheint der Petersburger Generalstreik des Jahres 1896 als ein rein ökonomischer partieller Lohnkampf. Seine Ursachen waren die unerträglichen Arbeitsbedingungen der Spinner und Weber Petersburgs: eine 13-, 14- und 15-stündige Arbeitszeit, erbärmliche Akkordlöhne und eine ganze Musterkarte nichtswürdigster Unternehmerschikanen. Allein diese Lage ertrugen die Textilarbeiter lange geduldig, bis ein scheinbar winziger Umstand das Maß zum Überlaufen gebracht hat. Im Jahre 1896 im Mai wurde nämlich die zwei Jahre lang aus Angst vor den Revolutionären hinausgeschobene Krönung des heutigen Zaren Nikolaus II. abgehalten, und aus diesem Anlaß bezeugten die Petersburger Unternehmer ihren patriotischen Eifer dadurch, daß sie ihren Arbeitern drei Tage Zwangsferien auferlegten, wobei sie jedoch merkwürdigerweise für diese Tage die Löhne nicht auszahlen wollten. Die dadurch aufgebrachten Textilarbeiter kamen in Bewegung. Nach einer Beratung von etwa 300 aufgeklärtesten Arbeitern[1] im Jekaterinenhofer Garten wurde der Streik beschlossen und die Forderungen formuliert: 1. Auszahlung der Löhne für die Krönungstage; 2. zehneinhalbstündige Arbeitszeit; 3. Erhöhung der Akkordlöhne. Dies geschah am 24. Mai. Nach einer Woche standen sämtliche Webereien und Spinnereien still, und 40000 Arbeiter waren im Generalstreik. Heute mag dieses Ereignis, an den gewaltigen Massenstreiks der Revolution gemessen, als eine Kleinigkeit erscheinen. In der politischen Eisstarre des damaligen Rußlands war ein Generalstreik etwas Unerhörtes, er war selbst eine ganze Revolution im kleinen. Es begannen selbstverständlich die brutalsten Verfolgungen, etwa 1000 Arbeiter wurden verhaftet und nach der Heimat abgeschoben, und der Generalstreik wurde unterdrückt.

Bereits hier sehen wir alle Grundzüge der späteren Massenstreiks. Der nächste Anlaß der Bewegung war ein ganz zufälliger, ja untergeordneter, ihr Ausbruch ein elementarer; aber in dem Zustandekommen der Bewegung zeigten sich die Früchte der mehrjährigen Agitation der Sozialdemokratie, und im Laufe des Generalstreiks standen die sozialdemokratischen Agitatoren an der Spitze der Bewegung, leiteten und benutzten sie zur regen revolutionären Agitation. Ferner: Der Streik war äußerlich ein bloßer ökonomischer Lohnkampf, allein die Stellung der Regierung sowie die Agitation der Sozialdemokratie haben ihn zu einer politischen Erschei‑

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[1] 1. Auflage: 300 der aufgeklärtesten Arbeiter.