Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 103

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punkt steht, fast kein einziger von den vielen Massenstreiks entspricht, die stattgefunden haben, und daß anderseits die Massenstreiks in Rußland eine solche Mannigfaltigkeit der verschiedensten Spielarten aufweisen, daß es ganz unmöglich ist, von „dem“ Massenstreik, von einem abstrakten, schematischen Massenstreik zu sprechen. Alle Momente des Massenstreiks sowie sein Charakter sind nicht bloß verschieden in verschiedenen Städten und Gegenden des Reiches, sondern vor allem hat sich ihr allgemeiner Charakter mehrmals im Laufe der Revolution geändert. Die Massenstreiks haben in Rußland eine bestimmte Geschichte durchgemacht, und sie machen sie noch weiter durch. Wer also vom Massenstreik in Rußland redet, muß vor allem seine Geschichte ins Auge fassen.

Die jetzige sozusagen offizielle Periode der russischen Revolution wird mit vollem Recht von der Erhebung des Petersburger Proletariats am 22. Januar 1905, von jenem Zuge der 200000 Arbeiter vor das Zarenschloß datiert, der mit einem furchtbaren Blutbade endete. Das blutige Massaker in Petersburg war bekanntlich das Signal zum Ausbruch der ersten Riesenserie von Massenstreiks, die sich binnen weniger Tage über das gesamte Rußland gewälzt und den Sturmruf der Revolution aus Petersburg in alle Winkel des Reiches und in die breitesten Schichten des Proletariats getragen haben. Die Petersburger Erhebung vom 22. Januar war aber auch nur der äußerste Moment eines Massenstreiks, der vorher das Proletariat der Zarenhauptstadt im Januar 1905 ergriffen hatte. Dieser Januarmassenstreik in Petersburg spielte sich nun zweifellos unter dem unmittelbaren Eindruck jenes riesenhaften Generalstreiks ab, der kurz vorher, im Dezember 1904, im Kaukasus, in Baku, ausgebrochen war und eine Weile lang ganz Rußland in Atem hielt. Die Dezemberereignisse in Baku waren aber ihrerseits nichts anderes als ein letzter und kräftiger Ausläufer jener gewaltigen Massenstreiks, die wie ein periodisches Erdbeben in den Jahren 1903 und 1904 ganz Südrußland erschütterten und deren Prolog der Massenstreik in Batum (im Kaukasus) im März 1902 war. Diese erste Massenstreikbewegung in der fortlaufenden Kette der jetzigen revolutionären Eruptionen ist endlich nur um vier bis fünf Jahre von dem großen Generalstreik der Petersburger Textilarbeiter in den Jahren 1896 und 1897 entfernt, und wenn diese Bewegung äußerlich von der heutigen Revolution durch einige Jahre scheinbaren Stillstands und starrer Reaktion getrennt scheint, so wird doch jeder, der die innere politische Entwicklung des russischen Proletariats bis zu der heutigen Stufe seines Klassenbewußtseins und seiner revolutionären Energie kennt, die Geschichte der jetzigen Periode der Massenkämpfe mit jenen Petersbur‑

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