Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 96

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schen Anarchisten als „bürgerliche Partei“ bitter bekämpft werden, oder zum Teil in den Händen solcher mehr oder weniger von der Sozialdemokratie beeinflußten und sich ihr annähernden sozialistischen Organisationen wie der terroristischen Partei der „Sozialisten-Revolutionäre“[1] – die Anarchisten existieren als ernste politische Richtung überhaupt in der russischen Revolution gar nicht. Nur in einer litauischen Kleinstadt mit besonders schwierigen Verhältnissen – bunte nationale Zusammenwürfelung der Arbeiter, überwiegende Zersplitterung des Kleinbetriebs, sehr tiefstehendes Proletariat –, in Bialystok, gibt es unter den sieben oder acht verschiedenen revolutionären Gruppen auch ein Häuflein halbwüchsiger „Anarchisten“, das zur Konfusion und zur Verwirrung der Arbeiterschaft nach Kräften beiträgt[2]; und letzthin macht sich in Moskau und vielleicht noch in zwei bis drei Städten je ein Häuflein dieser Gattung bemerkbar. Allein, was ist jetzt, abgesehen von diesen paar „revolutionären“ Gruppen, die eigentliche Rolle des Anarchismus in der russischen Revolution? Er ist zum Aushängeschild für gemeine Diebe und Plünderer geworden; unter der Firma des „Anarcho-Kommunismus“ wird ein großer Teil jener unzähligen Diebstähle und Plündereien bei Privatleuten ausgeübt, die in jeder Periode der Depression, der momentanen Defensive der Revolution wie eine trübe Welle emporkommen. Der Anarchismus ist in der russischen Revolution nicht die Theorie des kämpfenden Proletariats, sondern das ideologische Aushängeschild des konterrevolutionären Lumpenproletariats geworden, das wie ein Rudel Haifische hinter dem Schlachtschiff der Revolution wimmelt. Und damit ist die geschichtliche Laufbahn des Anarchismus wohl beendet.

Auf der anderen Seite ist der Massenstreik in Rußland verwirklicht worden nicht als ein Mittel, unter Umgehung des politischen Kampfes der Arbeiterklasse und speziell des Parlamentarismus durch einen Theatercoup plötzlich in die soziale Revolution hineinzuspringen, sondern als ein Mittel, erst die Bedingungen des täglichen politischen Kampfes und insbesondere des Parlamentarismus für das Proletariat zu schaffen. Der revolutionäre Kampf in Rußland, in dem die Massenstreiks als die wichtigste Waffe zur Anwendung kommen, wird von dem arbeitenden Volke und in erster Reihe vom Proletariat gerade um dieselben politischen Rechte

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[1] Die russischen Sozialrevolutionäre waren 1902 als Partei, die sich auf die Bauernschaft stützte, aus den Resten der Volkstümlerbewegung (Narodniki) hervorgegangen. Sie lehnten die Theses von der führenden Rolle des Proletariats in der revolutionären Bewegung ab und wollten die Beseitigung der zaristischen Selbstherrschaft und die Errichtung einer demokratischen Republik durch individuellen Terror erreichen.

[2] 1. Auflage: das die Konfusion und Verwirrung der Arbeiterschaft nach Kräften fördert.