Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 249

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Müßiggang, physische und geistige Degradation der Arbeitenden, Ausbeutung und Unterdrückung der Volksmassen, das Verhältnis der Geschlechter, Kunst und Wissenschaft in ihrer heutigen Gestalt – alles unterzieht er einer schonungslosen, vernichtenden Kritik, und zwar stets vom Standpunkt der Gesamtinteressen und des Kulturfortschritts der großen Masse. Liest man z. B. die Anfangssätze seiner „Arbeiterfrage“, so meint man, eine populäre sozialistische Agitationsschrift in der Hand zu haben:

„In der ganzen Welt gibt es mehr als eine Milliarde, Tausende Millionen Arbeiter. Das ganze Getreide, sämtliche Waren der ganzen Welt, alles, wovon die Menschen leben und was ihren Reichtum ausmacht, ist das Produkt des arbeitenden Volkes. Allein nicht das arbeitende Volk, sondern die Regierung und die Reichen genießen alles, was es erzeugt. Das werktätige Volk aber lebt in ewiger Not, Unwissenheit, Sklaverei und Verachtung bei allen denjenigen, die es kleidet, nährt, für die es baut und denen es dient. Das Land ist ihm weggenommen worden, und es ist das Eigentum derer, die nicht arbeiten, so daß der Arbeiter alles das machen muß, was die Grundbesitzer von ihm verlangen, um vom Grund und Boden leben zu können. Verläßt aber der Arbeiter das Land und geht in die Werkstatt, so gerät er in die Sklaverei bei den Reichen, bei welchen er das ganze Leben 10, 12, 14 und noch mehr Stunden am Tag eine fremde, eintönige und oft für das Leben schädliche Arbeit ausführen muß. Kann er sich aber auf dem Lande oder bei der fremden Arbeit so einrichten, um nur in Not leben zu können, so läßt man ihn nicht in Ruhe, sondern verlangt von ihm Steuern, zieht ihn selbst für drei, für fünf Jahre zum Soldatendienst heran und zwingt ihn, für das Kriegswerk besondere Steuern zu zahlen. Will er aber den Boden benutzen, ohne Rente zu zahlen, einen Streit anfangen oder die Arbeitswilligen verhindern, seine Stelle einzunehmen, oder die Steuern verweigern, so schickt man gegen ihn das Militär, das ihn verwundet, tötet und mit Gewalt zwingt, nach wie vor zu arbeiten und zu zahlen … Und so leben die meisten Menschen in der ganzen Welt, nicht bloß in Rußland, sondern auch in Frankreich, Deutschland, England, China, Indien, Afrika, überall.“[1]

Seine Kritik des Militarismus, des Patriotismus, der Ehe wird an Schärfe von der sozialistischen Kritik kaum übertroffen und bewegt sich in derselben Richtlinie wie diese. Wie originell und tief die soziale Analyse Tolstois ist, zeigt z. B. der Vergleich seiner Ansicht über die Bedeutung und den sittlichen Wert der Arbeit mit der Ansicht Zolas. Während dieser die Arbeit als solche in echt kleinbürgerlichem Geiste auf das Piedestal

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[1] Siehe L. N. Tolstoi: Zur Arbeiterfrage, Berlin 1901, S. 5–7.