Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 144

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mung der Unterstützungs- und der Kostenfrage an als vielmehr auf eine wirklich revolutionäre, entschlossene Klassenaktion, die imstande wäre, die breitesten Kreise der nichtorganisierten, aber ihrer Stimmung und ihrer Lage nach revolutionären Proletariermassen zu gewinnen und mitzureißen.

Die Überschätzung und die falsche Einschätzung der Rolle der Organisation im Klassenkampf des Proletariats wird gewöhnlich ergänzt durch die Geringschätzung der unorganisierten Proletariermasse und ihrer politischen Reife. In einer revolutionären Periode, im Sturme großer, aufrüttelnder Klassenkämpfe zeigt sich erst die ganze erzieherische Wirkung der raschen kapitalistischen Entwicklung und der sozialdemokratischen Einflüsse auf die breitesten Volksschichten, wovon in ruhigen Zeiten die Tabellen der Organisationen und selbst die Wahlstatistiken nur einen ganz schwachen Begriff geben.

Wir haben gesehen, daß in Rußland seit zirka zwei Jahren aus dem geringsten partiellen Konflikt der Arbeiter mit dem Unternehmertum, aus der geringsten lokalen Brutalität der Regierungsorgane sofort eine große, allgemeine Aktion des Proletariats entstehen kann. Jedermann sieht und findet es natürlich, weil in Rußland eben „die Revolution“ da ist. Was bedeutet aber dies? Es bedeutet, daß das Klassengefühl, der Klasseninstinkt bei dem russischen Proletariat in höchstem Maße lebendig ist, so daß es jede partielle Sache irgendeiner kleinen Arbeitergruppe unmittelbar als allgemeine Sache, als Klassenangelegenheit empfindet und blitzartig darauf als Ganzes reagiert. Während in Deutschland, in Frankreich, in Italien, in Holland die heftigsten gewerkschaftlichen Konflikte gar keine allgemeine Aktion der Arbeiterklasse – und sei es auch nur des organisierten Teils – hervorrufen, entfacht in Rußland der geringste Anlaß einen ganzen Sturm. Das will aber nichts anderes besagen, als daß – so paradox es klingen mag – gegenwärtig der Klasseninstinkt bei dem jungen, ungeschulten, schwach aufgeklärten und noch schwächer organisierten russischen Proletariat ein unendlich stärkerer ist als bei der organisierten, geschulten und aufgeklärten Arbeiterschaft Deutschlands oder eines anderen westeuropäischen Landes. Und das ist nicht etwa eine besondere Tugend des „jungen, unverbrauchten Ostens“ im Vergleich mit dem „faulen Westen“, sondern es ist ein einfaches Resultat der unmittelbaren revolutionären Massenaktion. Bei dem deutschen aufgeklärten Arbeiter ist das von der Sozialdemokratie gepflanzte Klassenbewußtsein ein theoretisches, latentes: In der Periode der Herrschaft des bürgerlichen Parlamentarismus kann es sich als direkte Massenaktion in der Regel

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