Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 135

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-2/seite/135

einem Lande, wo die Arbeiterklasse 30 Jahre Erfahrung im politischen Leben, eine drei Millionen starke sozialdemokratische Partei und eineinviertel Million gewerkschaftlich organisierte Kerntruppen hat, kann der politische Kampf, können die Massenstreiks unmöglich denselben stürmischen und elementaren Charakter annehmen wie in einem halbbarbarischen Staate, der erst den Sprung aus dem Mittelalter in die neuzeitliche, bürgerliche Ordnung macht. Dies die landläufige Vorstellung bei denjenigen, die den Reifegrad der gesellschaftlichen Verhältnisse eines Landes aus dem Wortlaut seiner geschriebenen Gesetze ablesen wollen.

Untersuchen wir die Fragen nach der Reihe. Zunächst ist es verkehrt, den Beginn des ökonomischen Kampfes in Rußland erst von dem Ausbruch der Revolution zu datieren. Tatsächlich waren die Streiks, die Lohnkämpfe im eigentlichen Rußland seit Anfang der neunziger Jahre, in Russisch-Polen[1] sogar seit Ende der achtziger Jahre, immer mehr auf der Tagesordnung und hatten sich zuletzt das faktische Bürgerrecht erworben. Freilich zogen sie häufig brutale polizeiliche Maßregelungen nach sich, gehörten aber trotzdem zu den alltäglichen Erscheinungen. Bestand doch z. B. in Warschau und Lódz bereits im Jahre 1891 je eine bedeutende allgemeine Streikkasse, und die Schwärmerei für die Gewerkschaften hat in diesen Jahren in Polen für kurze Zeit sogar jene „ökonomischen“ Illusionen geschaffen, die in Petersburg und im übrigen Rußland einige Jahre später grassierten.[2]

Nächste Seite »



[1] Als Russisch-Polen (Kongreßpolen) wird das 1815 durch den Wiener Kongreß geschaffene Königreich Polen bezeichnet, das bis 1915 bestand, durch Personalunion mit Rußland verbunden war und unter zaristischer Herrschaft litt.

[2] Es beruht deshalb auf einem tatsächlichen Irrtum, wenn die Genossin Roland-Holst in der Vorrede zur russischen Ausgabe ihres Buches über den Massenstreik meint: „Zwar war das Proletariat (in Rußland – R. L.), fast seit dem Aufkommen der Großindustrie, mit dem Massenstreik vertraut geworden, aus dem einfachen Grunde, weil partielle Streiks sich unter dem politischen Drucke des Absolutismus unmöglich erwiesen.“ (Neue Zeit, 1906, Nr. 33.) Das Umgekehrte war vielmehr der Fall. So sagte auch der Berichterstatter des Petersburger Gewerkschaftskartells auf der zweiten Konferenz der russischen Gewerkschaften im Februar 1906 eingangs seines Referats: „Bei der Zusammensetzung der Konferenz, die ich hier vor mir sehe, habe ich nicht nötig, erst hervorzuheben, daß unsere Gewerkschaftsbewegung nicht etwa von der ‚liberalen‘ Periode des Fürsten Swiatopolk-Mirski (im Jahre 1904 – R. L.) oder vom 22. Januar herrührt, wie manche zu behaupten versuchen. Die gewerkschaftliche Bewegung hat viel tiefere Wurzeln, sie ist unzertrennlich verknüpft mit der ganzen Vergangenheit unserer Arbeiterbewegung. Unsere Gewerkschaften sind bloß neue Organisationsformen zur Leitung jenes ökonomischen Kampfes, den das russische Proletariat bereits jahrzehntelang führt. Ohne uns weit in die Geschichte zu vertiefen, darf man wohl sagen, daß der ökonomische Kampf der Petersburger Arbeiter mehr oder weniger organisierte Formen annimmt seit den denkwürdigen Streiks der Jahre 1896 und 1897. Die Leitung dieses Kampfes wird, glücklich kombiniert mit der Leitung des politischen Kampfes, Sache jener sozialdemokratischen Organisation, die der Petersburger Verein des Kampfes um die Befreiung der Arbeiterklasse hieß und die sich nach der Konferenz im März 1898 in das Petersburger Komitee der russischen sozialdemokratischen Arbeiterpartei [Der Petersburger Kampfbund zur Befreiung der Arbeiterklasse wurde unter der Leitung W. I. Lenins im November 1895 gegründet. Der I. Parteitag der SDAPR vom 1. bis 3. März 1898 beschloß die Umgestaltung der Kampfbünde und sozialdemokratischen Gruppen Rußlands zu Komitees der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands.] verwandelte. Es wird ein kompliziertes System der Fabrik-, Bezirks- und Vorstadtorganisationen geschaffen, welches die Zentrale durch unzählige Fäden mit den Arbeitermassen verknüpft und es ihr ermöglicht, auf alle Bedürfnisse der Arbeiterschaft durch Flugschriften zu reagieren. Es wird die Möglichkeit geschaffen, die Streiks zu unterstützen und zu leiten.“ [Fußnote im Original]