Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 126

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verwandelten, bald in Straßenkampf, bald fielen sie von selbst zusammen.

In diesem allgemeinen Bilde spielen die reinen politischen Demonstrationsstreiks eine ganz untergeordnete Rolle – die einzelner kleiner Punkte mitten unter gewaltigen Flächen. Dabei läßt sich, zeitlich betrachtet, folgender Zug wahrnehmen: Die Demonstrationsstreiks, die im Unterschied von den Kampfstreiks das größte Maß von Parteidisziplin, bewußter Leitung und politischem Gedanken aufweisen, also nach dem Schema als die höchste und reifste Form der Massenstreiks erscheinen müßten, spielen in Wahrheit die größte Rolle in den Anfängen der Bewegung. So war z. B. die absolute Arbeitsruhe am 1. Mai 1905 in Warschau als der erste Fall eines so staunenswert durchgeführten Beschlusses der Sozialdemokratie für die proletarische Bewegung in Polen ein Ereignis von großer Tragweite. Ebenso hat der Sympathiestreik im November des gleichen Jahres in Petersburg als die erste Probe einer bewußten, planmäßigen Massenaktion in Rußland großen Eindruck gemacht. Genauso wird auch der „Probemassenstreik“ der Hamburger Genossen vom 17. Januar 1906[1] eine hervorragende Rolle in der Geschichte der künftigen deutschen Massenstreiks spielen als der erste frische Versuch mit der soviel umstrittenen Waffe, und zwar als ein so wohlgelungener, von der Kampfstimmung und Kampffreude der Hamburger Arbeiterschaft so überzeugend sprechender Versuch. Und ebenso sicher wird die Periode der Massenstreiks in Deutschland, wenn sie einmal im Ernst begonnen hat, von selbst zu einer wirklichen allgemeinen Arbeitsruhe am 1. Mai führen. Die Maifeier dürfte naturgemäß als die erste große Demonstration im Zeichen der Massenkämpfe zu Ehren kommen. In diesem Sinne hat der „lahme Gaul“, wie die Maifeier auf dem Kölner Gewerkschaftskongreß genannt wurde[2], noch eine große Zukunft und eine wichtige Rolle im proletarischen Klassenkampfe in Deutschland vor sich. Allein mit der Entwicklung der ernsten revolutionären Kämpfe nimmt die Bedeutung solcher Demonstrationen rasch ab. Gerade dieselben Momente, die das Zustandekommen der Demonstrationsstreiks nach vorgefaßtem Plan und auf die Parole der Parteien hin objektiv ermöglichen: das Wachstum des politischen Bewußtseins und der Schulung des Proletariats, machen diese Art

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[1] 80 000 Hamburger Arbeiter hatten am Nachmittag des 17. Januar 1906 die Arbeit niedergelegt, um in Versammlungen und mit Straßendemonstrationen gegen die Einschränkung des Bürgerschaftswahlrechtes zu protestieren. Es war der erste politische Massenstreik in Deutschland.

[2] Auf dem fünften Kongreß der Gewerkschaften Deutschlands vom 22. bis 27. Mai 1905 in Köln war die Diskussion über den 1. Mai als Kampftag der Arbeiterklasse abgebrochen worden. Der Kongreß ging ohne Abstimmung über vorliegende Anträge zur Tagesordnung über.