Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 12

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haupt keine geistige Verbindung zur Masse des Proletariats haben, die weder die historische Notwendigkeit dieser Revolution, die seit einem Jahr über dem Land dröhnt, noch ihre innere Logik noch die Garantie ihres Sieges verstehen, urteilen über das Schicksal der ganzen Revolution nach jedem kleinsten Schwanken der Waagschale zwischen dem Volk und der Konterrevolution und sind heute wieder bereit, an die Kraft des Absolutismus zu glauben und an der Kraft des Proletariats zu zweifeln, weil vorübergehend ein Soldat mit einem Bajonett mit Siegerschritt über die Straße marschiert, weil der Mord und die Schandtat an der Tagesordnung sind, weil die Presse geknebelt ist, die persönliche Freiheit beleidigt, die Gewerkschaften verboten, die öffentlichen Meetings eingestellt, mit einem Wort, die ganze „Verfassung“ anscheinend abgeschafft ist.

Betrachten wir die Lage einmal aufmerksamer. Auf den ersten Blick, dem Schein nach kann es den kurzsichtigen und gedankenlosen Leuten wirklich so vorkommen, als ob die Reaktion aus der letzten Kraftprobe mit der Revolution siegreich hervorgegangen sei. Ist doch der allgemeine Streik beendet worden, während der Kriegszustand weiter besteht. Durnowo und seine Politik der Gewalt herrschen[1], und der Absolutismus besteht auf dem Recht der Peitsche, indem er die Rechte der Gewerkschaften der Eisenbahner und der Post- und Telegrafenarbeiter nicht anerkennt. Scheinbar hat also der allgemeine Streik sein Ziel nicht erreicht. Sollte das bedeuten, daß diese mächtige Waffe diesmal stumpf geworden ist, daß der allgemeine Streik, dem wir bisher die wichtigsten Errungenschaften der Revolution verdanken, aufgehört hat zu wirken?

Wer so denkt, der beweist nur, daß er der bisherigen Geschichte der Revolution und der Rolle des allgemeinen Streiks in ihr blind gegenübergestanden hat. Der allgemeine Streik ist und bleibt eine mächtige Waffe des Arbeiterkampfes, aber er ist eben nur eine Waffe, deren Anwendung und Wirksamkeit immer von den Umständen abhängt, von den gegebenen Bedingungen und dem Zeitpunkt des Kampfes. Seit dem Ausbruch der offenen Arbeiterrevolution im Januar des vergangenen Jahres kam es, abgesehen von den örtlichen Streiks in einzelnen Städten und Gegenden, die hier und da fast pausenlos aufflammten, dreimal zum allgemeinen Streik, der sich in einer riesigen Welle über den ganzen Staat ergoß. Dreimal brach der Streik als Ausdruck des unmittelbaren Kampfes mit dem Zarentum in ganz Rußland und Polen aus, und jedesmal hatte

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[1] P. N. Durnowo war von Oktober 1905 bis April 1906 russischer Innenminister und wandte im Kampf gegen die Revolutionäre grausame Repressalien an.