Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 5, 4. Auflage, Dietz Verlag Berlin 1990, S. 755

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und der feste Aufbau des ganzen feudalen Abhängigkeitssystems, wo jedermann Herr über andere oder eines Herrn Diener oder beides zugleich sein mußte, dieses System wies jedem einen bestimmten Platz zu. Und mochte die Auspressung der Leibeigenen noch so arg sein, sie von der Scholle zu vertreiben, also sie der Lebensmittel zu berauben, hatte kein Herr das Recht, im Gegenteil, das Fronverhältnis verpflichtete den Herrn in Unglücksfällen, wie Brand, Hochwasser, Hagel etc., den verarmten Bauern zu unterstützen. Erst gegen den Ausgang des Mittelalters, mit dem Zusammenbruch des Feudalismus und dem Einzug des modernen Kapitals, beginnt das Bauernlegen.[1] Im Mittelalter jedoch war durchweg die Existenz der großen Masse der Arbeitenden gesichert. Zum Teil bildete sich schon damals ein geringes Kontingent Armer und Bettler infolge von zahlreichen Kriegen oder von einzelnen Vermögensverlusten. Aber die Erhaltung dieser Armen galt als Pflicht der Gesellschaft. Schon Kaiser Karl der Große bestimmt ausdrücklich in seinen Kapitularien: „Was die Bettler betrifft, die im Lande herumstreichen, so wollen wir, daß jeder von unseren Vasallen die Armen ernährt, sei es auf dem ihm verliehenen Gut oder im Innern seines Hauses, und daß er ihnen nicht erlaubt, anderswo betteln zu gehen.“ Später war es ein spezieller Beruf der Klöster, die Armen zu beherbergen und ihnen, wenn sie arbeitsfähig waren, Arbeit zu verschaffen. Im Mittelalter war also jeder Bedürftige in jedem Hause der Aufnahme sicher, die Ernährung Mittelloser galt als einfache Pflicht und war keinesfalls mit dem Makel der Verächtlichkeit eines heutigen Bettlers verbunden.

Nur einen Fall kennt die Geschichte der Vergangenheit, wo eine große Schicht der Bevölkerung beschäftigungslos und brotlos gemacht wurde. Es ist dies der schon erwähnte Fall des altrömischen Bauerntums, das vom Grund und Boden verdrängt und in Proletariat verwandelt wurde, für welches keine Beschäftigung übrig war. Diese Proletarisierung der Bauern war freilich eine logische und notwendige Folge der Ausbildung der großen Latifundien sowie der Verbreitung der Sklavenwirtschaft. Aber sie war für den Bestand der Sklavenwirtschaft und des großen Grundbesitzes durchaus nicht nötig. Im Gegenteil, das unbeschäftigte römische Proletariat war bloß ein Unglück, eine reine Last für die Gesellschaft, und die Gesellschaft suchte mit allen ihr zugänglichen Mitteln: durch periodische Verteilung von Grund und Boden, durch Verteilung von Lebensmitteln, durch Regulierung einer enormen Korneinfuhr und künstliche Verbilligung des Getreides, dem Proletariat und seiner Armut

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[1] Siehe S. 318, Fußnote 1.