Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 5, 4. Auflage, Dietz Verlag Berlin 1990, S. 687

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reicht hatten, daß zum Beispiel im Budget des Jahres 1906 bei einer ordentlichen Gesamteinnahme von 2030 Millionen Rubel nur 148 Millionen aus direkten und 1100 Millionen aus indirekten Steuern eingingen, darunter 558 Millionen allein aus dem Branntweinmonopol, das von dem „liberalen“ Minister von Witte zur Bekämpfung der Trunksucht eingeführt war.[1] Für die pünktliche Entrichtung dieser Steuer leisteten das Elend, die Hoffnungslosigkeit und die Unwissenheit der Bauernmasse die zuverlässigste Solidarhaft. Im Jahre 1905 und 1906 wurde der verbliebene Rest der Ablösungsschuld auf die Hälfte herabgesetzt, 1907 gänzlich gestrichen. Und nun stellte sich die 1907 durchgeführte „Agrarreform“ die Schaffung des kleinbäuerlichen Privateigentums offen zum Ziel.[2] Als Mittel hierzu soll die Parzellierung der Domänen, Apanagen und zum Teil des Großgrundbesitzes dienen. So hat die proletarische Revolution des 20. Jahrhunderts selbst in ihrer ersten, unvollendeten Phase bereits den letzten Rest der Leibeigenschaft und der vom Zarismus künstlich konservierten Markgenossenschaft zugleich liquidiert.

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Mit der russischen Dorfgemeinde ist der wechselvolle Lauf der Schicksale des primitiven Agrarkommunismus erschöpft, der Kreis geschlossen. Beginnend als ein naturwüchsiges Produkt der gesellschaftlichen Entwicklung, als die beste Garantie des wirtschaftlichen Fortschritts, des materiellen und geistigen Gedeihens der Gesellschaft, endet die Markgenossenschaft hier als ein mißbrauchtes Werkzeug der politischen und wirtschaftlichen Rückständigkeit. Der russische Bauer, der von seinen eigenen Markgenossen im Dienste des zarischen Absolutismus mit Ruten gezüchtigt wird – das ist die grausamste historische Kritik auf die engen Schranken des Urkommunismus und der sinnfälligste Ausdruck der Tatsache, daß auch diese Gesellschaftsform der dialektischen Regel unterliegt: Vernunft wird Unsinn, Wohltat – Plage.

Zwei Tatsachen springen vor allem in die Augen, wenn man die Schicksale der Markgenossenschaft in verschiedenen Ländern und Weltteilen aufmerksam betrachtet. Weit entfernt, eine starre, unwandelbare Schablone zu sein, weist diese höchste und letzte Form des urkommunistischen

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[1] S. J. Witte, von 1892 bis 1903 russischer Finanzminister, führte von 1895 bis 1898 etappenweise das staatliche Branntweinmonopol in ganz Rußland ein. Witte war Monarchist, aber zu einem Bündnis mit der Großbourgeoisie und zu konstitutionellen Zugeständnissen bereit.

[2] Siehe S. 245, Fußnote 2. – In den Jahren 1907 bis 1915 schieden insgesamt 2 008 432 Bauernhöfe, d. h. 25 Prozent, aus der Dorfgemeinschaft aus.