Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 5, 4. Auflage, Dietz Verlag Berlin 1990, S. 688

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Wirtschaftssystems vor allem eine unendliche Mannigfaltigkeit, Biegsamkeit und Anpassungsfähigkeit auf, erscheint je nach dem historischen Milieu in verschiedensten Formen. Sie macht dabei in jedem Milieu und unter allen Verhältnissen einen stillen Umwandlungsprozeß durch, der infolge seiner Langsamkeit nach außen zunächst kaum in die Erscheinung treten mag, im Innern der Gesellschaft jedoch stets neue Formen an Stelle veralteter setzt und so, unter jedem politischen Überbau einheimischer oder fremder Staatseinrichtungen, im wirtschaftlichen und sozialen Leben unaufhörlich Entstehen und Vergehen, Entwicklung oder Verfall erlebt.

Zugleich zeigt diese Gesellschaftsform gerade dank ihrer Elastizität und Anpassungsfähigkeit eine außerordentliche Zähigkeit und Dauerhaftigkeit. Sie trotzt allen Stürmen der politischen Geschichte, oder vielmehr, sie verträgt sie alle passiv, läßt sie alle über sich dahinfegen und erträgt geduldig jahrhundertelang den Druck jeder Eroberung, Fremdherrschaft, Despotie und Ausbeutung. Nur eine Berührung verträgt und überlebt sie nicht: Es ist die Berührung mit der europäischen Zivilisation, das heißt mit dem Kapitalismus. Der Zusammenstoß mit diesem ist für die alte Gesellschaft überall ohne Ausnahme tödlich, und er vollbringt, was Jahrtausende und was die wildesten orientalischen Eroberer nicht vermocht hatten: die ganze gesellschaftliche Struktur in ihrem Innern aufzulösen, alle traditionellen Bande zu zerreißen und die Gesellschaft in kürzester Zeit in einen formlosen Schutthaufen zu verwandeln.

Aber der Todeshauch des europäischen Kapitalismus ist bloß der letzte, nicht der einzige Faktor, der den Untergang der primitiven Gesellschaft früher oder später unabwendbar macht. Die Keime dazu liegen im Innern dieser Gesellschaft selbst. Fassen wir die verschiedenen Methoden ihres Untergangs zusammen, wie wir sie an verschiedenen Beispielen kennengelernt haben, so ergibt sich eine gewisse geschichtliche Reihenfolge. Der kommunistische Besitz der Produktionsmittel gewährte als Grundlage einer streng organisierten Wirtschaftsweise für lange Epochen den produktivsten Arbeitsprozeß der Gesellschaft und die beste materielle Sicherung ihres Fortbestandes und ihrer Entwicklung. Aber gerade der durch sie gesicherte, wenn auch sehr langsame Fortschritt der Produktivität der Arbeit mußte mit der kommunistischen Organisation mit der Zeit in einen gewissen Konflikt geraten. Nachdem im Schoße dieser Organisation der entscheidende Fortschritt zum höheren Ackerbau – zum Gebrauch der Pflugschar – vollzogen war und die Markgenossenschaft auf dieser Grundlage ihre festen Formen erhalten hatte, mußte nach einer gewissen Zeit der weitere Schritt in der Entwicklung der Produktionstechnik die intensivere

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