Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 5, 4. Auflage, Dietz Verlag Berlin 1990, S. 186

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Zweiter Waffengang. Kontroverse zwischen Rodbertus und v. Kirchmann

Fünfzehntes Kapitel. v. Kirchmanns Reproduktionstheorie

Auch die zweite theoretische Polemik um das Problem der Akkumulation hat ihren Anstoß von aktuellen Ereignissen bekommen. Wenn Sismondi zu seiner Opposition gegen die klassische Schule durch die erste englische Krise und die von ihr ausgelösten Leiden der Arbeiterklasse angeregt war, so schöpft Rodbertus fast fünfundzwanzig Jahre später den Anstoß zu seiner Kritik der kapitalistischen Produktion von der inzwischen aufgekommenen revolutionären Arbeiterbewegung. Die Aufstände der Seidenweber in Lyon[1], die Chartistenbewegung in England[2] gellten ihre Kritik auf die herrlichste aller Gesellschaftsformen in die Ohren der Bourgeoisie noch ganz anders als die unbestimmten Gespenster, die die erste Krise auf den Plan gerufen hatte. Die früheste sozialökonomische Schrift Rodbertus’, die wahrscheinlich aus dem Ende der 30er Jahre stammt und die, für die „Augsburger Allgemeine Zeitung“ geschrieben, von dem genannten Blatte aber nicht aufgenommen war, trägt den bezeichnenden Titel „Die Forderungen der arbeitenden Classen“ und beginnt mit den Worten: „Was wollen die arbeitenden Klassen? Werden die andern ihnen dies vorenthalten können? Wird das, was sie wollen, das Grab der modernen Kultur sein? – Daß einst mit großer Zudringlichkeit die Geschichte diese Fragen tun würde, wußte der Denkende längst, durch die Chartistenversammlungen und die Birminghamszenen[3] hat es auch die Alltagswelt erfahren.“ Bald sollte in Frankreich in den 40er Jahren die lebhafteste Gärung der revolutionären Ideen in den verschiedensten geheimen Gesell-

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[1] In Lyon hatten sich 1831 und 1834 die Arbeiter der Seidenwebereien und Handwerker erstmals in selbständigen politischen Aufständen gegen die Bourgeoisie erhoben. Die aufkommende Industriekonkurrenz und die verschärfte Ausbeutung durch kapitalistische Verleger und Manufakturisten führten im Herbst 1831 zum Streik und am 21. November 1831 zum Aufstand der Lyoner Seidenweber, der nach 2 Wochen von Regierungstruppen niedergeworfen wurde. Der zweite Aufstand vom 9. bis 12. April 1834 wurde gleichfalls vom Militär niedergeschlagen.

[2] Die Chartistenbewegung in England, eine Frühform der Arbeiterbewegung, basierte auf den 1836 in London und 1837/38 in Birmingham zur Durchsetzung eines Verfassungsvorschlages (der 6-Punkte-Peoples-Charter) entstandenen ersten politischen Arbeiterorganisationen. Ihre heterogene Zusammensetzung aus kleinbürgerlichen Radikalen, Handwerkern und Industrieproletariern verhinderte einheitliche Kampfaktionen in ganz England und führte letztlich zu ihrem Niedergang nach 1848/49.

[3] Am 15. Juli 1839 begann in Birmingham ein Volksaufstand, nachdem das englische Unterhaus die erste Petition mit 1,25 Millionen Unterschriften zur 6-Punkte-Peoples-Charter zurückgewiesen hatte. Der Aufstand wurde am 17. Juli 1839 von Militär und Polizei niedergeschlagen. Gegen die Chartisten setzte eine grausame Verfolgungswelle ein.