Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 5, 4. Auflage, Dietz Verlag Berlin 1990, S. 751

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-5/seite/751

aus den Städten aufs flache Land, um billigere Hände zu finden. Und sie brachten es darin so weit, daß es Frauen gab, die zu 1 Sou, das heißt etwa 4 Pf, Taglohn arbeiteten. Allerdings dauerte diese Herrlichkeit nicht lange; denn solche Löhne konnten nicht einmal für das tierische Dasein genügen. In Deutschland führte das Kapital zuerst ähnliche Zustände in der Textilindustrie herbei, wo die selbst unter das physiologische Minimum herabgedrückten Löhne in den vierziger Jahren zu den Hungeraufständen der Weber in Schlesien und in Böhmen führten.[1] Heute bildet das tierische Minimum der Lebensmittel die Regel für die Löhne – bei den Landarbeitern in Deutschland, in der Konfektion, in den verschiedenen Zweigen der Hausindustrie – überall, wo die Gewerkschaft ihre Wirkung auf die Lebenshaltung nicht ausübt.

In der Heraufschraubung der Arbeitslast und der Herabdrückung der Lebenshaltung der Arbeitenden auf das tierisch mögliche Maß und zum Teil erheblich über dasselbe gleicht die moderne kapitalistische Ausbeutung derjenigen in der Sklavenwirtschaft und der Leibeigenschaft während der ärgsten Ausartung der beiden letzten Wirtschaftsformen, also während sich beide ihrem Verfall näherten. Was aber die kapitalistische Warenproduktion ganz allein hervorgebracht hat und was zu allen früheren Zeiten gänzlich unbekannt war, das ist die teilweise Nichtbeschäftigung und deshalb Nichtkonsumtion der Arbeitenden als ständige Erscheinung, das heißt, die sogenannte Reservearmee der Arbeiter. Die kapitalistische Produktion hängt ab vom Markt und muß seiner Nachfrage folgen. Diese ändert sich aber fortwährend und erzeugt abwechselnd sogenannte gute und schlechte Geschäftsjahre, -saisons und -monate. Das Kapital muß sich fortwährend diesem Wechsel der Konjunktur anpassen und infolgedessen bald mehr, bald weniger Arbeiter beschäftigen. Es muß also, um in jedem Augenblick die nötige Zahl Arbeitskräfte auch für höchste Anforderungen des Marktes bei der Hand zu haben, ständig neben der beschäftigten Zahl Arbeiter eine beträchtliche Zahl unbeschäftigter zur Disposition in Reserve halten. Die nichtbeschäftigten Arbeiter kriegen als solche keinen Lohn, ihre Arbeitskraft wird ja nicht gekauft, sie liegt nur auf Lager; die

Nächste Seite »



[1] Der Aufstand der 3000 schlesischen Weber vom 4. bis 6. Juni 1844 war der erste selbständige Kampf der deutschen Arbeiterklasse gegen kapitalistische Ausbeutung und feudalmilitaristische Unterdrückung. Er richtete sich gegen willkürliche Lohnsenkungen durch die Fabrikanten und wurde von preußischem Militär blutig niedergeschlagen.

[2] Randnotiz R. L.: Entstehung der Res.armee.