Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 5, 4. Auflage, Dietz Verlag Berlin 1990, S. 563

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kraft auf die Sinne jedes Beobachters einstürmen, auf irgendeinem anderen Gebiete des Wissens als dem der Nationalökonomie denkbar? In der Naturwissenschaft würde jedenfalls ein Gelehrter von Ruf, der heute öffentlich die Ansicht vertreten wollte, daß nicht die Erde um die Sonne, sondern die Sonne mit sämtlichen Gestirnen um die Erde als ihrem Mittelpunkt kreise, der behaupten würde, daß er „gar keine Erscheinungen kenne“, die dieser seiner Ansicht „in wesentlichen Merkmalen“ widersprächen – ein solcher Gelehrter dürfte sicher sein, dem homerischen Gelächter der ganzen gebildeten Welt zu begegnen und schließlich auf Betreiben der bekümmerten Verwandten auf seinen Geisteszustand untersucht zu werden. Freilich, vor 400 Jahren wurden solche Ansichten nicht nur ungestraft verbreitet, sondern ein jeder, der es unternahm, ihre Verkehrtheit öffentlich darzutun, lief selbst Gefahr, auf dem Scheiterhaufen zu enden. Damals lag die Aufrechterhaltung der irrigen Meinung, als ob die Erde Mittelpunkt der Welt und der Bewegung der Gestirne wäre; im dringenden Interesse der katholischen Kirche, und jeder Angriff auf die eingebildete Majestät des Erdballs im Weltraum war zugleich ein Attentat auf die geistige Zwingherrschaft der Kirche und auf ihre Zehnten auf der platten Erde. Damals war also die Naturwissenschaft der kitzlige Nervenpunkt des herrschenden Gesellschaftssystems und die naturwissenschaftliche Mystifikation ein unentbehrliches Instrument der Knechtung. Heute, unter der Herrschaft des Kapitals, liegt der kitzlige Punkt des Gesellschaftssystems nicht im Glauben an die Mission der Erde im blauen Himmelsraum, sondern im Glauben an die Mission des bürgerlichen Staates auf Erden. Und weil auf den gewaltigen Wogen der Weltwirtschaft bereits schwere Nebel aufsteigen und sich zusammenballen, weil sich dort Stürme vorbereiten, die den „Mikrokosmos“ des bürgerlichen Staates wie einen Hühnerstall vom Erdboden hinwegfegen werden, deshalb stürzt die wissenschaftliche „Schweizergarde“ der Kapitalsherrschaft vor die Tore ihrer Zwingburg, des „Nationalstaates“, um sie bis zum letzten Atemhauche zu verteidigen. Das erste Wort, der Grundbegriff der heutigen Nationalökonomie ist eine wissenschaftliche Mystifikation im Interesse der Bourgeoisie.

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Manchmal wird uns die Nationalökonomie auch einfach, so definiert: Sie sei „die Wissenschaft über die wirtschaftlichen Beziehungen der Menschen“. Diejenigen, die eine solche Formulierung geben, glauben die Klip-

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