Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 5, 4. Auflage, Dietz Verlag Berlin 1990, S. 698

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-5/seite/698

heutigen Gesellschaft finden wir gar keine: weder Herrschaft noch Gesetz, noch Demok[ratie], keine Spur von Plan u[nd] Org[anisation] – Anarchie. Wie ist die kap[italistische] Ges[ellschaft] möglich?

1

Um dem Bau des kapitalistischen Babelturms auf die Spur zu kommen, stellen wir uns erst für einen Augenblick wieder eine Gesellschaft mit planmäßiger Organisation der Arbeit vor. Es sei dies eine Gesellschaft mit hochentwickelter Arbeitsteilung, wo nicht nur die Landwirtschaft und das Gewerbe getrennt, sondern auch innerhalb beider jeder besondere Zweig zur Spezialität besonderer Gruppen von Arbeitenden geworden ist.[1] In der Gesellschaft gibt es also Landwirte und Förster, Fischer und Gärtner, Schuster und Schneider, Schlosser und Schmiede, Spinner und Weber usw. usw. Die Gesellschaft im ganzen ist also mit jeder Art Arbeit und jeder Art Produkten versehen. Diese Produkte kommen in größerer oder geringerer Menge allen Mitgliedern der Gesellschaft zugute, denn die Arbeit ist eine gemeinschaftliche, sie ist geteilt und von vornherein planmäßig organisiert durch irgendeine Autorität – sei dies das despotische Gesetz der Regierung oder sei dies die Leibeigenschaft oder irgendeine andere Form der Organisation. Zur Vereinfachung stellen wir uns indes vor, dies sei eine kommunistische Gemeinde mit Gemeineigentum, wie wir sie bereits an dem indischen Beispiel kennengelernt haben. Wir setzen nur für einen Augenblick voraus, daß die Arbeitsteilung innerhalb dieser Gemeinde viel weiter gediehen ist, als dies geschichtlich der Wahrheit entspricht, und nehmen an, daß ein Teil der Gemeindemitglieder sich ausschließlich der Landwirtschaft widmet, während jede andere Art Arbeit von speziellen Handwerkern verfertigt wird. Die Wirtschaft dieser Gemeinde ist uns ganz klar: Es sind die Gemeindemitglieder selbst, die alle den Grund und Boden und sämtliche Produktionsmittel gemeinsam besitzen, ihr gemeinsamer Wille bestimmt auch, was, wann und wieviel von jedem Produkt hergestellt werden soll. Die fertige Produktenmasse wird aber, da sie gleichfalls allen zusammen gehört, unter alle nach Maßgabe der Bedürfnisse verteilt. Nun aber stellen wir uns vor, daß in dieser so beschaffenen kommunistischen Gemeinde eines schönen Morgens das Gemeineigentum aufgehört hat zu existieren und damit auch die gemeinsame Arbeit und der gemeinsame Wille, der sie regelte. Die einmal erreichte hochentwickelte Arbeitsteilung ist selbstverständlich geblieben.

Nächste Seite »



[1] Randnotiz R. L.: Wir werden nachher nachprüfen, ob oder inwieweit eine solche Hypothese zulässig ist.