Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 5, 4. Auflage, Dietz Verlag Berlin 1990, S. 686

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Bauern vielfach den Rücken und traten aus, um der lästigen Solidarhaft für die Steuern der Armeren zu entgehen. Aber auch wo formelle Ausscheidungen reicher Bauern unterblieben, bildeten diese – zum größten Teil zugleich Wucherer des Dorfes – in der Markversammlung gegenüber der armen Masse die herrschende Macht, die durch die verschuldete und abhängige Mehrheit sich genehme Beschlüsse durchzudrücken wußte. So bildete sich im Schoße der formell auf Gleichheit und Gemeineigentum beruhenden Dorfgemeinde eine deutliche Klassenscheidung in eine kleine, aber einflußreiche Dorfbourgeoisie und eine Masse abhängiger und tatsächlich proletarisierter Bauern. Der innere Verfall der von der Steuerlast erdrückten, vom Wucher zerfressenen, innerlich gespaltenen Dorf gemeinde machte sich endlich nach außen Luft: Hungersnot und Bauernrevolte wurden in den achtziger Jahren in Rußland zur periodischen Erscheinung, die die inneren Gouvernements mit derselben Unerbittlichkeit heimsuchte, mit der auch der Steuerexekutor und das Militär zur „Beruhigung“ des Dorfes ihr auf der Spur folgten. Die russischen Fluren wurden auf weiten Gebieten zum Theater grauenhaften Aussterbens vor Hunger und blutiger Tumulte. Der russische Muschik machte das Los des indischen Bauern durch, und Orissa hieß hier: Saratow, Samara und so weiter die Wolga herunter.[1] Als endlich in den Jahren 1904 und 1905 die Revolution des städtischen Proletariats in Rußland ausbrach, fielen die bis dahin chaotischen Bauerntumulte zum erstenmal mit ihrem ganzen Schwergewicht als politischer Faktor in die Waagschale der Revolution, und die Agrarfrage wurde zu ihrem Zentralpunkt. Jetzt, als die Bauern wie eine unwiderstehliche Sturmflut über die adligen Güter sich ergossen und die „adligen Nester“ in Flammen aufgehen ließen mit dem Schrei nach Land, als die Arbeiterpartei die Not der Bauernschaft in der revolutionären Forderung formulierte, den Staatsbesitz und den Großgrundbesitz unentgeltlich zu expropriieren und den Bauern zu überweisen, wich der Zarismus endlich von seiner jahrhundertelang mit eiserner Ausdauer durchgeführten Agrarpolitik zurück. Die Markgenossenschaft war nicht mehr vor dem Untergang zu retten; sie mußte aufgegeben werden. Schon im Jahre 1902 wurde an die Wurzeln selbst der Dorfgemeinde in ihrer spezifisch russischen Gestalt die Axt gelegt: Die Solidarhaft für Steuern wurde aufgehoben. Freilich war diese Maßnahme durch die Finanzwirtschaft des Zarismus selbst tatkräftig vorbereitet. Der Fiskus konnte auf die Solidarhaft bei direkten Steuern leicht verzichten, nachdem die indirekten eine solche Höhe er-

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[1] Siehe C. Lehmann und Parvus[: Das hungernde Rußland. Reiseeindrücke, Beobachtungen und Untersuchungen. Stuttgart 1900]. – [Fußnote im Original]