Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 5, 4. Auflage, Dietz Verlag Berlin 1990, S. 756

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zu steuern. Schließlich wurde dieses große Proletariat im alten Rom schlecht oder recht vom Staate direkt erhalten.

Die kapitalistische Warenproduktion ist also die erste Wirtschaftsform in der Geschichte der Menschheit, bei der die Beschäftigungslosigkeit und die Mittellosigkeit einer großen und wachsenden Schicht der Bevölkerung und direkte hoffnungslose Armut einer anderen gleichfalls wachsenden Schicht nicht bloß eine Folge, sondern auch eine Notwendigkeit, eine Lebensbedingung dieser Wirtschaft ist. Unsicherheit der Existenz der gesamten arbeitenden Masse und chronischer Mangel, zum Teil direkte Armut bestimmter breiter Schichten sind zum erstenmal eine normale Erscheinung der Gesellschaft. Und die Gelehrten der Bourgeoisie, die sich keine andere Gesellschaftsform als die heutige vorstellen können, sind so von dieser Naturnotwendigkeit der Schicht der Arbeitslosen und Brotlosen durchdrungen, daß sie sie als ein von Gott gewolltes Naturgesetz erklären. Der Engländer Malthus erbaute darauf im Anfang des 19. Jahrhunderts seine berühmte Theorie der Übervölkerung, wonach die Armut daher entstehe, daß die Menschheit die üble Gewohnheit habe, rascher ihre Kinder zu vermehren als ihre Lebensmittel.

Es ist aber, wie wir gesehen, nichts anderes als die einfache Wirkung der Warenproduktion und des Warenaustausches, die zu diesen Ergebnissen führt. Dieses Warengesetz, das formell auf völliger Gleichheit und Freiheit beruht, ergibt ganz mechanisch, ohne jede Einmischung der Gesetze oder der Gewalt, mit eiserner Notwendigkeit eine so krasse soziale Ungleichheit, wie sie in allen früheren auf direkter Herrschaft eines Menschen über den anderen beruhenden Verhältnissen vollständig unbekannt war. Zum erstenmal wird direkter Hunger zur Geißel, die täglich das Leben der arbeitenden Masse peitscht. Und auch das erklärt man als ein Naturgesetz. Der anglikanische Pfaffe Townsend schrieb schon im Jahre 1786: „Es scheint ein Naturgesetz, daß die Armen zu einem gewissen Grad leichtsinnig sind, so daß stets welche da sind zur Erfüllung der servilsten, schmutzigsten und gemeinsten Funktionen des Gemeinwesens. Der Fonds von menschlichem Glück wird dadurch sehr vermehrt, die Delikateren sind von der Plackerei befreit und können höherem Beruf usw. ungestört nachgehn ... Das Armengesetz hat die Tendenz, die Harmonie und Schönheit, die Symmetrie und Ordnung dieses Systems, welches Gott und die Natur in der Welt errichtet haben, zu zerstören.“[1]

Die „Delikaten“, die auf Kosten anderer leben, haben übrigens schon

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[1] Zit. nach: Karl Marx: Das Kapital, Erster Band. In: Karl Marx, Friedrich Engels: Werke, Bd. 23, S. 676.